Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
Palastgeländes zu sein, ein angenehm prickelndes Gefühl, Dinge zu erfahren, die Bashanorandi nicht erfuhr. Die Gefolgschaft hatte für Hal vom ersten Moment an einen Ort bedeutet, an dem er der Mensch sein konnte, als der er sich sah – ein Denker, ein Akteur, eher ein Mensch der Tat als ein jüngerer Prinz, der irgendwo kauerte und darauf wartete, dass Dinge um ihn herum geschahen. Hal hatte sich der Gefolgschaft fast zwangsläufig angeschlossen, hatte ruhig und gewandt seine Treueschwüre geleistet, als der gesamte Rest der Welt glaubte, der Prinz könne nur Singsang-Reime plappern.
Aber selbst nachdem sich Hal der Gefolgschaft angeschlossen hatte, erfuhr er nicht alles von dem, worauf sie hinarbeitete. Er wusste, dass Glair die Gruppe anführte, zumindest in Moren. Er wusste, dass jedes offizielle Treffen der Gefolgschaft mit einem Gebet an Jair, den Ersten Pilger, begonnen wurde. Er wusste, dass die Gefolgschaft ihren Feinden, der Bruderschaft der Gerechtigkeit, ablehnend gegenübergestanden hatte, dass diese schattenhafte Gruppe von Verrätern die tumultartigen Ereignisse in Gang gesetzt hatte, die zu Halaravillis Thronbesteigung führten. Und er wusste, dass die Gefolgschaft von Hal gewisse Handlungsweisen erwartete, von ihm als König gewisse Entscheidungen erwartete.
»Erzähl es mir, Glair«, drängte er. »Erzähl mir, was so wichtig ist, damit ich klug entscheiden kann.«
»Ich werd dir nich’ alle unsre Pläne verraten, Junge. Es wär nich’ sicher.« Hal wollte protestieren, als das alte Unberührbaren-Weib den Kopf schüttelte und ihre Hände sich auf ihren Lumpen öffneten und schlossen, aber dann schien sie zu einer Entscheidung zu gelangen. »Ich werd dir jedoch Folgendes sagen: Wir sind nich’ allein hier in Morenia. Die Gefolgschaft is’ über alle Länder verteilt, vom Ostmeer über die Berge und auch nach Norden und Süden. Du denkst in den Grenzen deines Königreichs, du denkst in den Grenzen all dessen, was du kennst und was dir lieb is’, aber du siehst nur ‘n kleinen Teil des wahren Bildes.«
»Was ist dieses Bild, Glair?«
»Wir sind die Gefolgschaft des Jair. Jair war ein Mensch, der sein Leben durch alle Kasten hindurch lebte.« Die Worte der Unberührbaren-Frau erinnerten Hal an die Fenster in der Kathedrale, die weiten Glasflächen, die die Geschichte des Lebens des Ersten Pilgers erzählten. Jair war als einer der Unberührbaren geboren worden, war aber durch harte Arbeit und kluge Verhaltensweise aufgestiegen – zuerst zum Händler, dann zum Gildeangehörigen und Soldaten und schließlich zum Adligenpriester. Glair fuhr fort: »Er besaß die Gabe zu erkennen, was die Menschen wirklich brauchten. Er besaß die Gabe, die ganze Welt im Glauben an die Tausend Götter zu vereinen. Er is’ unser Vorbild, Junge. Er is’, was wir erstreben.«
»Was meinst du? Dass die Gefolgschaft alle Königreiche vereinen will? Dass die Gefolgschaft alle Nationen erobern will?« Hal sah sich einen Augenblick als Herrscher eines gewaltigen Reiches, eines Landes, das sich erstreckte, so weit die Landkarten reichten.
Aber er erkannte seine Torheit sofort. Glair hatte nicht gesagt, dass Hal den Traum der Gefolgschaft regieren würde. Sie hatte nicht gesagt, dass Hal die Nachfolge antreten würde. Wenn überhaupt, so deutete sie an, dass Hal sein Thron entrissen würde, dass er gezwungen würde, zum Nutzen der Gefolgschaft beiseitezutreten. Hal wäre gezwungen, sein Geburtsrecht abzutreten wie ein Händler, der sich in eine Gilde einkauft. Wie Rani es getan hatte – ein Leben für ein anderes verwirken. Hal wagte es nicht, bei dem Gedanken zu verweilen, wie Ranis Handel ausgegangen war. »Meinst du das, Glair? Dass die Gefolgschaft alles regieren wird?«
Die alte Frau verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Ich hab dir bereits mehr erzählt, als du hören solltest. Wenn du der Gefolgschaft verschworen bist, solltest du in der Lage sein, uns mit deinem Wissen zu unterstützen. Was soll es sein, Junge? Bist du für uns oder gegen uns?«
»So einfach ist das nicht.«
»Ah, aber das is’ es doch. Solange du der Gefolgschaft angehörst, bist du wie ein Soldat. Du bekommst deine Befehle. Entweder befolgst du sie, oder du meuterst. Und wenn du meuterst, dann bezahl den Preis.«
»Du drohst deinem König, alte Frau!«
Glair warf den Kopf zurück und lachte, ein kehliges Glucksen, das die Hautfalten an ihrem Hals wie Gelee zittern ließ. »Ich hab dich zum König gemacht, Junge! Nun,
Weitere Kostenlose Bücher