Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
ihn sprach.
»Sein Vater ist tot«, murrte Tasuntimanu.
»Ja, möge er jenseits der Himmlischen Tore wandeln.« Beide Männer vollführten ein heiliges Zeichen, bevor der unbekannte Sprecher fortfuhr: »Wir werden sehen, ob der Junge geschickt genug ist, ein Treffen mit Tarn selbst zu meiden.« Hal hörte die Drohung hinter den Worten so deutlich, als rage der Gott des Todes bereits über den beiden Männern in der Gasse auf. »Er hätte vielleicht eine Chance, wenn er nur auf seine Oberen hören würde. Auf seine Oberen anstatt auf sein eigenes, eigensinniges Selbst.«
Der Sprecher wählte genau diesen Moment, um eine Hand zu seinem buschigen Haar zu führen, um an einer juckenden Stelle zu kratzen. Hal konnte im Dämmerlicht recht deutlich sehen, dass dem unbekannten Mann zwei Finger seiner rechten Hand fehlten. Tasuntimanu traf sich mit Herzog Puladarati, Hals früherem Prinzregenten.
Natürlich. Die Worte der Männer ergaben Sinn. Puladarati war von allen Männern am Hof der »Oberste«, der durch Hals zunehmende Unabhängigkeit am meisten zu verlieren hatte. Es war sogar logisch, dass sie in den Schatten standen, beim Geheimeingang zum Palast. Immerhin hatte Dalarati – ein Mitglied der Gefolgschaft – Hal diesen schattengleichen Gang gezeigt. Tasuntimanu würde das Geheimnis gewiss ebenfalls kennen.
Hal verschmolz mit der Sicherheit der Schatten. Während er darauf wartete, dass die Adligen den Palast betreten würden, fragte er sich, wie stark Herzog Puladarati um die Macht kämpfen würde, die er einst genossen hatte, und um die Krone. Hal fragte sich, wie bald er um sein Leben kämpfen müsste.
6
Rani schaute von der Brustwehr hinab und hob instinktiv eine Hand, um ihr Haar vor dem zaghaften Zugriff einer Winterbrise zu bewahren. Aber das Haar wurde ihr gar nicht in die Augen geweht. Stattdessen war es streng aus der Stirn zurückgenommen und unter einen eng anliegenden Kopfschmuck gesteckt. Rani hätte sich das fedrige Gebilde fast vom Kopf gerissen, als sich ihre Finger unbeholfen an ihrer seltsamen Kleidung zu schaffen machten. Sie fluchte leise und wandte sich wieder der Szene weit unter ihr zu.
»Sieh nur, Mair!«
»Ich kann es von hier aus sehen.«
»Mair!« Rani schaute von dem geschäftigen Hof hoch und trat einen Schritt auf ihre Freundin zu. Das Unberührbaren-Mädchen war so blass wie das gebleichte Tuch um ihr Gesicht. Sie kauerte neben dem mit einer Löwentätowierung versehenen Wächter, der die beiden schweigend bewachte. Mair trug ebenfalls eine der seltsamen, reich verzierten Kopfbedeckungen des Nordens, die noch betonte, wie spitz ihre Wangenknochen waren, wie dünn ihr Gesicht geworden war. »Mair, was ist los?«
»Nix is’ los, Rai.« Mair schluckte hörbar, als sie mit ihren rissigen Lippen in der Redeweise der Unberührbaren sprach. »Zumindest nich’ so, wie du meinst.«
»Was ist es dann? Komm und sieh von hier aus auf den Hof! Es sind viele Wagen dort, als wäre Markttag oder so.«
»Ich glaub dir, Rai. Ich muss mir nich’ das Offensichtliche ansehen.«
Rani wandte sich wieder der Mauer der Brustwehr zu. »Da unten müssen zwei Dutzend Wagen stehen! Allein die Ochsen zu füttern, würde den Erlös eines Händlers im Handumdrehen aufbrauchen. Es ist seltsam, jetzt einen Markttag abzuhalten, wo sich doch alle auf den Winter vorbereiten müssen.« Rani sah noch einen Moment zu, bevor sie ausrief: »Warte! Sie errichten keinen Markt. Diese Wagen kommen nicht an. Sie verlassen Amanth!« Rani beugte sich über die Brustwehr hinaus, verrenkte sich fast den Hals, um den Boden nahe des Turms besser sehen zu können.
»Rai, nicht!« Rani wandte sich zu ihrer Gefährtin um, als sie die Angst in ihrer Stimme registrierte. »Lehn dich nich’ über die Mauer!«
Der Soldat grinste über die offensichtliche panische Angst des Unberührbaren-Mädchens, und Rani warf ihm einen finsteren Blick zu. »Mair, es ist in Ordnung«, versicherte Rani ihrer Freundin eilig. »Ich bin vollkommen sicher.« Mair schüttelte nur den Kopf und drückte die Handflächen an die Steinmauer hinter ihr. Sie blickte mühsam zur Brustwehr, einen beinahe entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht.
»Was ist los, Mair? Was stimmt nicht? Schmerzt dein Arm?«
»Meinem Arm geht es gut.« Dennoch barg das Unberührbaren-Mädchen den gebrochenen Arm eng an ihrer Brust und trat unbewusst näher an den Löwenmann heran.
»Was dann?«
»Musst du so nah an der Mauer stehen? Es is’ ein langer Weg nach
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