Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
unten.«
»Natürlich ist es…« Schließlich dämmerte es Rani. »Dann ist es die Höhe? Du hast Angst vor dem Turm?«
Mair versuchte mit mäßigem Erfolg ein schwaches Grinsen. »Du kannst nich’ viel über Türme erfahren, wenn du in den Straßen der Stadt lebst.«
»Aber auf dem Schiff ging es dir gut, an Deck, als wir nach Norden segelten!«
»Es ging mir gut, solange ich von der Reling wegblieb! Weißte, wie weit es bis zum Hof runter is’?«
Mair hatte Höhenangst! Rani hätte beinahe gelacht, wäre das Unberührbaren-Mädchen nicht so eindeutig den Tränen und einer Ohnmacht nahe gewesen.
Rani hatte Höhen ihr ganzes Leben lang geliebt, seit sie zum ersten Mal die Leiter zu ihrem Bett im schattigen Dachboden über dem Laden ihrer Eltern hinaufgestiegen war. Als Ranita Glasmalerin war sie über die Gerüste ihrer Gilde geturnt. Und jetzt merkte sie, dass Mair Angst hatte! Mair hatte sich gegen die Wache des Königs gestellt. Sie hatte jahrelang eine Schar Kinder angeführt, sie vor Krankheit und Hungertod und Vertreibungstagen bewahrt. Mair hatte sogar die Gefolgschaft des Jair manipuliert, hatte sich ihren Weg in diese Hierarchie gebahnt, ohne kaum einen Moment zu zögern. Sich vorzustellen, dass das Unberührbaren-Mädchen Angst vor frischer Luft und ein wenig Sonnenlicht haben könnte!
»Also gut«, sagte Rani schließlich, überrascht über die Herzlichkeit, die sie jäh für ihre Freundin empfand. »Gehen wir wieder rein.«
Mair wandte sich sofort der Treppe zu, die vom Dach hinunterführte. Sie stieg hinab, bevor Rani auch nur die Becher aufheben konnte, die sie mit auf die offene Plattform gebracht hatten. Rani hatte bei ihrer Freundin noch nie einen so bereitwilligen Rückzug erlebt. Der Wächter kicherte, als sie an ihm vorübergingen, aber er folgte ihnen nicht die dunkle Wendeltreppe hinab. Andere Soldaten wachten über die Gefangenen, sobald sie sich wieder im Turm befanden.
Tatsächlich wäre Mair vielleicht nicht so erpicht darauf gewesen, der Brustwehr zu entkommen, wenn sie gewusst hätte, was sie in ihrem Raum erwartete. Die Mädchen teilten sich ein rundes Zimmer auf halber Höhe des Turmes. Wächter waren auf der darunterliegenden Ebene postiert, zwei kräftige, mit Langspießen und Schwertern bewaffnete Männer wie der Bursche auf der Brustwehr. Rani konnte es kaum erkennen, wenn die Wachen gewechselt hatten – sie waren alle kräftig und überernährt, und ihre Haare waren kurz geschoren, damit sie unter den Helm passten. Und jeder einzelne von Sin Hazars Wächtern trug die Löwentätowierung unter dem linken Auge. Die Wächter hatten offensichtlich die Anweisung bekommen, nicht mit den Südländern zu sprechen. Jeglichem freundlichen Annäherungsversuch von Ranis Seite waren sie mit steinernem Schweigen begegnet.
Es gelang den Wächtern auch ohne Worte, Rani und Mair am Verlassen des Turmes zu hindern, indem sie ihnen den Weg mit ihren Waffen verwehrten. Sin Hazar hatte den Mädchen befohlen, sich auszuruhen. Sie sollten sich von der anstrengenden Reise in den Norden erholen. Als Rani darauf beharrt hatte, sie brauche keine Ruhe, hatte der König ihren Protest einfach weggewischt. »Dann braucht Eure Freundin Ruhe. Sie muss sich von ihrer Verletzung erholen.« Nach dieser Abfuhr war es ihr Mair gegenüber unloyal erschienen, weiterhin Einspruch zu erheben, und Rani hatte sich zu ihrem sorgfältig gestalteten Gefängnis führen lassen.
Denn dieser Raum war ein Gefängnis. Er war jedoch gewiss besser ausgerüstet als jede andere Gefängniszelle, die Rani überlebt hatte. Der Boden war mit duftenden Binsen ausgelegt anstatt mit durchweichtem Stroh. Der Kamin zog gut, und die Soldaten brachten ihnen ausreichende Holzvorräte. Das Essen war verführerisch und abwechslungsreich, es traf noch warm aus den königlichen Küchen ein. Dennoch hegte Rani keinerlei Zweifel daran, dass sie eine Gefangene war.
Daher hätte sie nicht überrascht sein sollen, jemanden in ihrem Raum vorzufinden, als sie und Mair aus dem dunklen Treppenhaus eintraten. Prinz Bashanorandi fuhr nervös zusammen, als die Mädchen den Raum betraten. Er wirkte wie ein Kind, das in einem Laden beim Stehlen von Süßigkeiten ertappt wurde.
»Bashi!«, rief Rani aus, bevor sie es verhindern konnte.
»Ranita.« Der Prinz verbeugte sich steif, während er ihre Benutzung seines Spitznamens registrierte. »Mair.«
Das Unberührbaren-Mädchen schlug sofort mit vor Zorn knisternden Worten um sich. »Was tut Ihr in
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