Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
des Kettenpanzers eines Soldaten und schwerer Stiefel auf Stein. Sie hörte einen Mann leise murren und San, den Gott des Eisens, beschwören. Erst als der Fluch deutlich wurde, konnte Rani das andere Geräusch deuten, das Klirren, das kratzende, Furcht erregende Geräusch.
Rani sprang zur Türschwelle, gerade als der Soldat auftauchte. Er fuhr sie an, als sie die Tür öffnete; sein zorniger, anzüglicher Blick wirkte durch das über sein halbes Gesicht tätowierte Löwenemblem noch verzerrter. »Zurück in den Raum, Mädchen!«
»Aber…«
»Zurück in den Raum, sonst befestige ich die hier an Eurer Tür!«
Rani trat über die Schwelle zurück, nahm die Röcke eng um ihre Beine. Der Soldat ging weiter die Treppe hinauf und zog die schwere Kette hinter sich her. Rani musste nicht zusehen, um das Geräusch zu deuten, das sie nun hörte. Die Kettenglieder wurden durch die alten, schmiedeeisernen Beschläge der oberen Tür geschoben. Sie hörte Metall auf Metall schaben wie riesige Schlangenschuppen. Dann erklang ein leiseres Geräusch, ein leichter Schlag, und drei feste Rucke.
Sin Hazar hatte befohlen, die Tür zum Turm zu verschließen.
Rani konnte auf der Brustwehr keine frische Luft mehr atmen. Sie konnte den Hof nicht mehr beobachten, nicht mehr die umgebende Landschaft betrachten, sich nicht mehr ihre Flucht nach Morenia und zu Hal vorstellen. Sie war in diesem Turm gefangen.
Sie wartete nur, bis der Soldat die Treppe wieder hinunterstolziert war, in Begleitung seines Gefährten, der oben Wache gestanden hatte. Dann wandte sie sich zu Mair um, wobei ihre Stimme vor Zorn oder vor Tränen über den Treuebruch zitterte. »Ich hoffe, du bist jetzt glücklich.«
»Es musste sein.« Mair saß in einem niedrigen Sessel neben der Feuerstelle. Sie zog die Schultern hoch, während sie die Arme um ihren Bauch schlang, und wiegte sich vor und zurück. »Es ging nich’ anders. Es musste sein.«
»Ja, du konntest dich nicht beherrschen!«, fauchte Rani. »Als wenn es dich kümmern würde. Du hast es von Anfang an gehasst, auf der Brustwehr zu sein!«
»Ich hatt’ keine andere Wahl. Es musste sein.« Mair wiegte sich langsam vor und zurück.
»Nichts musste sein! Wir hätten mit Bashi reden können! Wir hätten mit ihm zusammenarbeiten können! Mair, nicht alles ist Kampf! Nicht alles ist eine Schlacht!«
Mair schüttelte nur den Kopf und wiegte sich weiterhin. »Es musste sein.«
Rani konnte nur knapp einen weiteren Protest unterdrücken, konnte nur knapp verhindern, ihre Freundin anzuschreien. Stattdessen zügelte sie ihre Wut und stürmte quer durch den Raum zum Fenster. Sie blickte durch den schmalen Spalt und sah den saphirblauen Himmel des Spätherbstes. Eine Schar Gänse flog vorüber, deren gegenseitige Rufe sie gerade eben hören konnte. Die Gänse verschwanden Richtung Süden, fort von der Kälte, fort vom Winter, fort vom sicheren Tod, und Rani fühlte sich eingesperrter denn je.
Das Sonnenlicht schwand rasch, und Rani legte ihre Handarbeit zur Seite, als sie die matten Stiche auf dem gedämpften Leinenhintergrund nicht mehr ausmachen konnte. Als die Sonne unterging, erkannte Rani, dass ihr bis zu Sin Hazars Festessen nur noch wenig Zeit blieb. Sie wusste, dass der König erwartete, sie in vollständigem Hofstaat zu sehen.
Die ersten Male, als Sin Hazar ihnen eine Audienz gewährt hatte, hatte er Dienstboten geschickt, um ihnen beim Ankleiden zu helfen. Mair hatte dem jedoch ein Ende gesetzt, indem sie eine Dienerin an den Haaren zog, als die Unglückliche Mairs struppiges Haar ein wenig zu heftig bürstete. Sin Hazar hatte Nachricht geschickt, dass er seinen Haushalt nicht von ungehobelten Südländerinnen terrorisieren lassen würde. Danach waren Rani und Mair sich selbst überlassen worden. Zumindest hatten sie die Kleiderordnung lockern können – Mair konnte mit ihrem verletzten Arm die Nareeth-Spitzen nicht so fest anziehen, wie es bei Ranis Hüften erwartet wurde.
Nun erhob sich Rani und begann, sich mechanisch anzukleiden. Zuerst das weiche Leinenunterkleid, das sie von Kopf bis Fuß umhüllte. Dann das enge Nareeth, das bereits in ihre Haut einschnitt, als sie es fest zuband. Mair erwachte aus ihrer Erstarrung vor dem Feuer, als Rani den Raum durchquerte, und das Unberührbaren-Mädchen griff mechanisch aufwärts, um die Spitze fester zu ziehen. Rani hielt sich am Kaminsims fest, und Mair gürtete das Kleidungsstück um ihre Taille. »Atme!«, befahl Mair, und Rani ließ alle Luft aus den
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