Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
Lungen entweichen. Mair nutzte diesen Moment und zog fester zu, ließ Rani aufschreien.
»Au! Das ist zu fest!«
»Das ist so fest, wie es schon die ganze Zeit gewesen ist.«
»Ich kann nicht atmen!«
»Wenn du dich als Lady des Nordens verkleiden willst, sollteste diese Rolle besser auch annehmen.«
»Ich kann die Rolle annehmen und dennoch atmen!«
Mair zuckte nur die Achseln und griff nach Ranis Balkareen. Der reich verzierte Stoff lag gefältelt und sittsam über Ranis Brust. Das Kleidungsstück wies eine angenähte Schärpe auf, die Mair mit geschickten Fingern faltete, um sie dann auf dem Rücken zu einem kunstvollen Bogen zu binden. »Heb die Arme.« Als Rani der Aufforderung nachkam, zog das Unberührbaren-Mädchen die Stoffenden zurecht und glättete die steifen, starren Falten. »In Ordnung.« Sie betrachtete ihr Werk nickend. »Wo ist dein Haarschmuck?«
Rani deutete auf die Truhe am Fuß des Bettes und beobachtete, wie Mair den schweren Schmuck hervornahm. Anders als der gepolsterte Zierrat, den Nordländer als Tagesschmuck für angemessen erachteten, war der abendliche Haarschmuck eine komplizierte Angelegenheit aus klingendem Metall. Der Aufbau ruhte auf einem mit kunstvoll gewebtem Stoff umwickelten Gestell.
Rani setzte sich auf den niedrigen Sessel am Feuer und reichte Mair einen Elfenbeinkamm. Das Unberührbaren-Mädchen löste das Haar ihrer Gefährtin und führte die kleinen Zähne durch die Verknotungen. »Au!«, rief Rani aus. »Das tut weh, Mair.«
»Schönheit muss leiden. Der König erwartet dich in vollem Staat.« Rani wollte protestieren, aber Mair zog nur noch fester an einem besonders hartnäckigen Knoten. Rani drängte die Tränen zurück, die in ihren Augenwinkeln brannten. Sie ertrug es, als Mair zuerst die Knoten auskämmte, grob am Haar zog und es dann zu zwei festen Zöpfen flocht. Diese Zöpfe wurden mit langen, bösartig spitzen Elfenbeinnadeln auf ihrem Kopf aufgesteckt. Rani biss sich auf die Zunge, als eine der Nadeln auf ihre Kopfhaut traf.
Dann setzte Mair ihr vorsichtig den Haarschmuck auf. Eine geschickte Anordnung sehr kleiner Klammern hielt den Haarschmuck auf Ranis Haar fest.
»So«, verkündete Mair, »bereit fürs königliche Festessen.«
»Du hättest mir den Haarschmuck noch nicht aufsetzen sollen. Jetzt kann ich dir nicht beim Ankleiden helfen.«
»Ich gehe nicht.«
»Du musst!«, rief Rani. »Du hast Bashi gehört. Dies ist ein Festessen zu unseren Ehren!«
»Niemand hier will mich ehren. Außerdem schmerzt mein Arm zu sehr.«
»Mair…«
»Geh nur, Rani. Sag den Wächtern einfach, dass es mir nicht gut geht.«
»Aber…«
»Geh, Rani. Alles wird gut. Im Namen Virs, alles wird gut.«
Der Gott der Märtyrer. Eigentlich nicht der Gott, zu dem Rani um Trost gebetet hätte. Aber sie schluckte nur und wandte sich zur Tür. Bevor sie den Raum jedoch verließ, schaute sie zu ihrer Freundin zurück. »Es tut mir leid, Mair. Ich hätte mich nicht so aufregen sollen wegen der verschlossenen Tür.«
»Is’ schon in Ordnung, Rai. Es musste sein.«
Rani schüttelte den Kopf, wurde aber durch das unheilvolle Metallklingeln ihres Haarschmucks einer Antwort enthoben. Sie stieg die Treppe langsam hinab, aus Angst, über die unvertrauten Röcke zu stolpern. Die Knochenstäbe des Nareeth drückten gegen ihre Rippen, und sie fragte sich, ob es ihr gut genug ging, um an dem Festessen teilzunehmen.
Natürlich wurde ihr die Wahl genommen, sobald sie den Treppenabsatz erreichte, ein Stockwerk unterhalb des Raums, den sie mit Mair teilte. Vier Wächter lehnten an den Steinmauern und nahmen verspätet Haltung an, als Ranis klingender Haarschmuck ihr Herannahen ankündigte. »Herrin«, sagte einer der Wächter.
Rani konnte aus diesem einen Wort viel heraushören. Der Mann fand sie anziehend. Sie bemerkte den Augenblick, in dem er ihre eingeschnürte Taille wahrnahm, die Art, wie er die starren Falten des Balkareen über ihrer Brust maß. Sie tat einen weiteren Schritt, der Haarschmuck klimperte, und sie beobachtete, wie sein Blick zu dem Metall und dann zu ihrer bloßen Kehle zuckte. »Herrin«, wiederholte er und verbeugte sich sogar.
»Gehen wir zu dem Festessen«, befahl Rani kühl und beschwor allen Hochmut herauf, den sie in Hals Palast gelernt hatte.
Der Wächter räusperte sich. »Ah… wo ist die andere? Lady Mair?«
»Es geht ihr nicht gut. Ihr Arm schmerzt sie.«
»Aber Seine Majestät hat euch beide zu sich befohlen.«
Rani legte den Kopf leicht zur
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