Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
sich zu regen. Stattdessen sah er mit einem wilden Glitzern in den Augen zu Crestman hoch, das Rani nicht deuten konnte, das sie weder Liebe noch Hass zuschreiben konnte.
Crestman trat vor, in den Feuerschein, in das tödliche Schweigen, das den Singsang des Kleinen Heers ersetzt hatte. »Im Namen König Sin Hazars, ich verschone diesen Jungen. Holt ein Kalb! Wir werden unseren Sieg mit frischem Fleisch feiern! Frisches Fleisch als Geschenk von unserem König! Ein Geschenk von Sin Hazar!«
Es dauerte nur einen Moment, bis sich die Jungen neu gruppierten, um ein brüllendes Kalb aus dem Pferch auf der anderen Seite des Schwanenschlosses herbeizuholen.
Rani beobachtete, wie Crestman seinen Umhang ablegte. Sie beobachtete, wie der Hauptmann zu Varner hinüberging und das Kleidungsstück um die noch immer zuckenden Schultern des Jungen legte. Sie beobachtete, wie Crestman den Saum des Umhangs anhob und einen Teil des Mischmaschs auf seinem Gesicht abwischte. Der Hauptmann streckte die Hand auch nach Monny aus, berührte einmal die Stirn des Jungen. »Im Namen König Sin Hazars«, murmelte Crestman, aber Monny schrak vor seiner Hand zurück.
Crestman nickte, als hätte er die von ihm erwartete Reaktion erhalten, und half Varner dann hoch. Er brachte den Jungen zu einem Baumstamm und half ihm, es sich bequem zu machen. Crestman hüllte den Jungen sorgfältig in seinen Umhang, als wäre er ein Kindermädchen, und dann rief er einen anderen Soldaten herüber und befahl, dass Varner frisches Fleisch und mit Wasser versetzter Wein gebracht würde.
Nachdem er Varner versorgt wusste, wankte Crestman in die Nacht hinaus, schlang die Arme um sich, um den kalten Wind abzuwehren, der am Hang aufgekommen war. Rani wollte aufstehen und ihm nachgehen, aber Mairs Hand legte sich mit entschlossener Kraft um ihr Handgelenk. »Ich hab’s dir im Palast des Königs gesagt, Rai. Du kannst niemandem in Amanthia vertrauen.«
»Aber…«
»Er is’ gefährlich, Rai.«
»Er hat Angst. Und er ist voller Reue.«
»Er hat diese Jungen besser an Sin Hazar gebunden, als es jeder Schwur gekonnt hätte. Er is’ gefährlich.«
Rani entzog Mair ihr Handgelenk und humpelte vom Feuer fort, sie erinnerte sich an ihre Vergangenheit, an ihre eigene Sehnsucht, einer Gruppe anzugehören. Sie erinnerte sich an das unschuldige Blut, das sie vergossen hatte, um diesem Ziel näher zu kommen.
Sie kannte die schmerzende Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Sie verstand Hauptmann Crestman vom Kleinen Heer, auch wenn sie ihm nicht beistehen konnte oder wollte.
8
Hal stand in der Laibung des Kinderzimmers und blickte durch das mit einem Mittelpfosten versehene Fenster in den Hof hinab. Es war Monate her, seit er zuletzt in diesem Raum gewesen war, in dem Zimmer, das er mit Bashi und seinen vier Halbschwestern geteilt hatte, die Räumlichkeiten, die er mit Rani geteilt hatte, als sie das erste Mal in den Palast gekommen war. Bei seinem Eintreten hatten die Kindermädchen von der Morgenmahlzeit der Prinzessinnen aufgeblickt. Sie hatten nur einen Blick auf das Gesicht des Königs, einen Blick auf die messerartigen Wachsscherben auf dem aus seinen Händen ragenden Pergament geworfen und waren geflohen. Die Prinzessinnen hatten sie mitgenommen und ihn allein gelassen.
Ganz allein. Allein und klein. Blut und Gebein.
Hal weigerte sich bewusst, den auf Pergament geschriebenen Brief erneut zu lesen, und hob stattdessen eine Puppe auf, welche die jüngste Prinzessin in der Hand gehalten hatte. Er strich mit dem Daumen über das hölzerne Gesicht des Spielzeugs und die seidigen Locken aus Pferdehaar hinab. Auch Rani hatte eine Puppe besessen, als sie zur Ersten Pilgerin bestimmt worden war. Sie hatte sie auf dem Podest der Kathedrale dargeboten, um ihren dem König gegenüber, dem Verteidiger des Glaubens gegenüber geleisteten Schwur zu bekräftigen.
Den Glauben verteidigt. Auf den Geist vereidigt.
Nein, keine Reime mehr!
Nachdem sich Rani im Schloss eingerichtet hatte, nach den entsetzlichen Ereignissen, die sie ihren Bruder gekostet und Hal auf den Thron gebracht hatten, hatte Rani ihm anvertraut, dass es ihr Angst gemacht habe, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen, an jenem Tag in der Kathedrale. Sie hatte die letzte Verbindung zu ihrer Mutter und ihrem Vater nicht loslassen wollen, zu der Familie, die sie beschützt und geliebt hatte. Natürlich hatte der alte König Shanoranvilli nichts von den Hoffnungen und Wünschen eines Kindes gewusst. Er hatte die Puppe
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