Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
Wahl, als um die Bäume zu verhandeln, was auch immer es Tovins Gaukler kostete. Oder was es Crestman kostete.
Sie wollte es erklären und dann wieder zur Vorderseite des Gildehauses gehen, ins helle Morgenlicht. Alles wäre besser als Tovins wütende Überlegenheit. Absolut alles.
Sie schluckte schwer und zwang sich, vorwärtszugehen. Über die Schwelle. In die Dunkelheit.
Nein. Nicht in die Dunkelheit. Über ihnen war kein Dach. Die Ziegelsteinmauer war nicht mehr als ein Schild, um Unvorsichtige daran zu hindern, eine steile Rampe hinabzustürzen. Rani schaute durch die Einfriedung nach einer entsprechenden Öffnung, einer weiteren gähnenden Rampe.
Tovin wandte sich mit einer halbherzigen Verbeugung zu Rani um. »Mylady«, sagte er mit herablassendem Hohn, und Rani ging widerwillig die Rampe hinab.
Nach wenigen Fuß Erde war der Durchgang aus Stein gehauen. Die Rampe bog sich um die hohle Mittelsäule herum, den eigentlichen Brunnenschacht. Alle zehn Schritte war von der umfriedeten Rampe zum Schacht ein Fenster durchgebrochen worden.
Rani atmete tief ein und näherte sich der nächsten Lücke. Als sie hinaufblickte, konnte sie über sich zwei Reihen Fenster in der Steinsäule sehen, die sich zum Himmel erstreckte. Sie schaute abwärts und stellte fest, dass auch unter ihr spiralförmig Fenster verliefen, sich wie ein Spinnennetz nach außen zogen und die Innenseite des Steinschachtes sprenkelten. Sie beugte sich immer weiter hinaus und streckte sich, um den Grund des Brunnens zu sehen. »Roan bewahre uns!«, keuchte sie und rief den Gott der Leitern an, weil ihr kein anderer Beschützer gegen die schwindelnde Höhe einfiel. Rani hatte erhöhte Plätze wie Leitern und Gerüste stets gemocht. Aber dies war beinahe zu viel, selbst für sie. Sie zog sich über den Steinsims des Fensters zurück.
Tovin schnaubte und bedeutete ihr, abwärts voranzugehen. Am Grunde des Brunnens waren die Wände feucht, von Rinnsalen durchzogen, die lautlos in ein gewaltiges Becken rannen. Dicke Holzplanken erstreckten sich über das Wasser. Rani fragte sich, wie tief es wäre, aber bevor sie die Frage noch stellen konnte, griff Tovin in den Lederbeutel an seiner Taille. Er nahm einen missgestalteten Klumpen blutroten Glases hervor – ein Stück von den Paneelen der Gaukler, wie Rani erkannte. Er hielt die Hand einen Moment über das Wasser und ließ das Glas dann fallen. Rani beobachtete, wie es durchs Wasser sank und in der unendlichen Tiefe des Brunnens verschwand. Sie konnte den Grund nicht sehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie viel Wasser sich unter ihr sammelte. Der Brunnen enthielt mehr Wasser als manche Flüsse. Mehr Wasser, als es in ganz Moren gab.
Erst als das karmesinrote Glas in den Schatten am Grunde des Brunnens verloren war, wagte Rani zu sprechen. »Das ist es also, was sie brauchen? Die Riberrybäume?«
»Das. Oder eine andere Möglichkeit, Wasser für sie zu besorgen.«
»Vierundzwanzig Eimer am Tag.«
»Für jeden deiner Bäume. Für jeden einzelnen, den du auf dem Rücken eines Kindes erworben hast.« Tovins Zorn war zu Boshaftigkeit verblasst. »Aber du kannst deinem König sagen, dass du bei deinem Handel gesiegt hast. Du hast bei deinem Handel gesiegt, und du hast den Gauklern ihren Schutzherrn genommen.«
»Das war nicht beabsichtigt!«
»Natürlich nicht.« Er verspottete sie.
»Ich wollte nur meinem König helfen.«
»Ohne einen Gedanken an irgendjemand anderen zu verschwenden. An irgendetwas anderes. Du hast mich benutzt, Ranita Glasmalerin. Meine Gaukler werden ohne einen Schutzherrn verloren sein – und das alles, weil du beweisen musstest, dass du Recht hattest. Du musstest beweisen, dass du die Spinnengilde übervorteilen konntest.«
»Das stimmt nicht!« Rani hatte überhaupt nicht für sich selbst verhandelt. Sie hatte zu Gunsten ganz Morens verhandelt, zu Gunsten all der Männer, Frauen und Kinder, die unter den bitteren Nachwirkungen des Feuers litten. Selbst jetzt konnte sie sich die Waisen mit ihren rußigen Lippen vorstellen, die Blut husteten. Sie konnte die Körper der Toten sehen, die wie Feuerholz aufgestapelt worden waren. Wie die Riberrybäume, die in Morenia auch sterben würden, ohne das von ihnen benötigte Wasser verdursten würden. Riberrybäume, die nur zu den Reisigbündeln würden, auf denen man die Leichname verbrannte, die nach und nach von Ranis Scheitern zeugen würden.
Es sei denn, Rani hätte in Anigos Halle in irgendeiner Form die Wahrheit gesprochen.
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