Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
zum vierten Kanal. Sie war enttäuscht, als sie in die mit grünem Schaum bedeckten Kanäle blickte – der Nachtregen hatte nicht genügt, um ihre durstigen Tiefen zu füllen. Sie würde heute Abend doch Wasser aus dem Großen Brunnen holen müssen. Sie seufzte, aber dann erkannte sie, dass die Arbeit nicht ihr zufiele. Ein Lehrling würde die Esel antreiben. Ein Lehrling würde in den Brunnen hinabsteigen und mit den sperrigen Wassertragekörben kämpfen.
Mareka wäre am Ende des Nachmittags Gesellin.
Sie griff abwärts und richtete ihre Knieschützer, die Teil ihrer Lehrlingskleidung waren. Einige Meister hielten die gepolsterte Seide für ein Gräuel, ein Zeichen der Schwäche und einen Mangel an Hingabe. Aber Mareka wusste, dass sie so wesentlich länger in einem Riberrybaum bleiben konnte, dass sie weitaus mehr gemusterte Raupen sammeln konnte. Ihr Ziel war es immerhin, den Octolaris zu dienen. Indem sie für die Gesundheit und Nahrung der Spinnen sorgte, nützte sie der gesamten Gilde.
Und dann, weil sie wusste, dass sie nach ihrer Prüfung nicht mehr auf die Bäume klettern würde, weil sie wusste, dass sie niemals wieder nach gemusterten Raupen suchen würde, beschloss Mareka, den nächststehenden Riberrybaum zu erklettern. Sie würde eine letzte Mahlzeit für die Octolaris einsammeln, ein letztes Opfer bringen, aus Dankbarkeit dafür, dass sie in den nächsten Rang der Spinnengilde aufstiege.
Die Riberryrinde fühlte sich unter ihren Handflächen glatt an. Die Bäume waren bequem zu erklettern. Sie wurden dafür gezüchtet. Sie verzweigten sich häufig, boten leichte Hand- und Fußstützen. Marekas aufgewühlte Gedanken wurden von der makellosen Rinde unter ihren Händen besänftigt – sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals nicht geklettert wäre, nicht die gemusterten Raupen gesucht hätte.
Während sie sich auf die Enden der Zweige zu bewegte, dachte sie über die achtfachen Erscheinungsformen der gemusterten Falter nach: schwarze Raupe, schwarzer Kokon, graue Raupe, grauer Kokon, weiße Raupe, weißer Kokon, Falter, Kadaver.
Marekas geschickte Finger fanden eine Ansammlung weißer Raupen, die sich inmitten der gelben Blätter am Ende des Riberryzweiges wanden. Sie machte kurzen Prozess mit dem Einsammeln der sich windenden Tiere und steckte sie in ihren fest gewobenen Lehrlingskorb.
Sie hatte gerade die letzten Raupen aus einem kleineren Einschluss gelber Blätter gestreift, als sie zum Fuß ihres Baumes schaute. Das Sklavenmädchen sah zu ihr hoch, die Augen so groß wie die einer Octolaris. »Bitte, Spinnenherrin!«, rief das Kind. »Seid vorsichtig!«
»Ich werde dir Vorsicht zeigen«, murrte Mareka, verärgert darüber, dass das Kind ihr Können bezweifelte. Sie platzierte die Füße sorgfältig auf die Zweige, während sie den Baum hinabkletterte, packte das glatte Holz mit den Handflächen und Knien und schwang ihren Sammelkorb automatisch sicherheitshalber auf ihren Rücken.
Als sie am Boden ankam, streckte sie eine fordernde Hand aus. »Mein Kuchen.«
Das Sklavenmädchen nahm mit zitternden Händen ein in Seide gewickeltes Bündel hervor. Mareka wickelte den Stoff ab, ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Sie schluckte ihre Verärgerung über die seltsame Anzahl der Umhüllungen hinunter. Jeder Sklave der Spinnengilde hätte wissen müssen, dass man die Seide mindestens vier Mal umschlingen musste. Acht Mal wäre noch besser gewesen. Dennoch hatte die Sklavin es geschafft, den Kuchen nicht zu verlieren.
Und – ha! Das Mädchen hatte noch mehr gebracht. Auf dem goldgelben Kümmelkuchen lagen eine Faust voll Erdbeeren – dicke, karmesinrote Früchte, die in der Morgenhitze glänzten. Mareka sah das Mädchen an und schätzte ihre Fähigkeiten neu ein. »So, was haben wir denn hier?«
»Meine Herrin in der Stadt mochte Beeren zu ihrer Morgenmahlzeit. Ich dachte, Ihr würdet sie auch mögen.«
Mareka schob sich eine Frucht in den Mund und biss in das süße Fruchtfleisch. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr als bloßer Lehrling zuletzt eine solche Köstlichkeit gestattet worden wäre – hatte sie seit Verlassen ihres Elternhauses überhaupt eine Erdbeere gegessen? Sie schob sich eine weitere Beere in den Mund und schloss bei dem reinen, süßen Geschmack die Augen.
»Was tust du, törichtes Mädchen!«
Mareka wurde jäh in den Riberryhain zurückgerissen, als ein Wirbel Weiß das Eintreffen eines weiteren Lehrlings ankündigte. Sie versteckte ihren Kümmelkuchen rasch
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