Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
Jerushas.
Das Mädchen drückte sich an die Mauer des Lehrlingshauses, als wolle sie ein weniger auffälliges Ziel bieten. Mareka trat noch einen Schritt näher, so dass ihr Schatten das helle Sonnenlicht auf dem Gesicht der Sklavin verdeckte. Mareka konnte in den tiefen Schatten eine Tätowierung unter einem Auge des Mädchens ausmachen, die silbrige Verzweigung einer Schwanenschwinge auf ihrer Wange. Seltsam, dieser Schwan. Den Jungen waren ihre Tätowierungen alle aus dem Gesicht geschnitten worden. Sie waren verunstaltet worden, bevor man sie an ihre liantinischen Herren verkauft hatte. Nur die Mädchen hatten ihre Kennzeichnungen behalten. Nur die Mädchen – und dies war der erste Schwan, den Mareka je gesehen hatte.
»Wie heißt du, Sklavin?«
»S-Serena, Spinnenherrin.«
»Warum habe ich dich hier nicht schon früher gesehen?«
»Ich wurde in Liantine erworben, Spinnenherrin, an König Teheboths Hof. Ich habe der ehrenwerten Spinnengilde die zwei Jahre, seit ich in Liantine bin, in der Stadt gedient und bin erst gestern Abend zum Gildehaus gekommen, mit meinem Spinnenherrn.«
In der Stadt gedient… Das Mädchen musste von einem der Gildeexperten erworben worden sein, welche die Aufgabe hatten, Spinnenseide in der Welt außerhalb des Gildebereichs zu verkaufen. Dann war es kein Wunder, dass sie Mareka Spinnenherrin nannte. Die Närrin wusste es nicht besser. Sie dachte, sie müsste alle ihre Besitzer ehren, ohne jemals zu erkennen, dass sie einige mit ihrer Unverschämtheit verärgern würde.
Dennoch, selbst ein freies Kind hätte den einfachen Befehl begreifen sollen, den Mareka gegeben hatte. Ein Sklave sollte gewiss direkte Befehle befolgen können. »Sklavin, lass mich dir den Befehl nicht noch einmal erteilen. Kümmelkuchen. Riberryhaine. Du kannst sie sehen, dort.« Mareka deutete über den Hof. »Ich werde am vierten Kanal warten.«
»J-ja, Spinnenherrin.«
Das Kind rührte sich nicht.
»Serena! Jetzt!«
»Aber Spinnenherrin, werdet Ihr Lehrling Jerusha sagen, dass Ihr mich geschickt habt? Werdet Ihr es ihr erklären?«
Ich werde es ihr erklären, dachte Mareka. Ich werde ihr erklären, dass sie kein Recht hatte, einen von der Hirschkuh verfluchten Spion auf mich anzusetzen. »Ja, aber nur wenn du mir meinen Kuchen bringst, ohne dass jemand es sieht. Ohne dass jemand erfährt, dass du ihn für mich holst.« Das Sklavenmädchen stürzte ohne ein weiteres Wort aus dem Schatten des Gebäudes hervor, wobei ihre rote, zerfetzte Tunika um ihre Knie flatterte.
Jerusha war vielleicht hinterhältig. Sie war vielleicht eine geschickte Drahtzieherin. Und sie war auch hochintelligent. Mareka hätte niemals daran gedacht, ihre Rivalin an diesem Prüfungstag zu verfolgen. Wer weiß, was Jerusha vielleicht erfahren hätte, um ihre Überlegenheit zu betonen? Wer weiß, welche Geheimnisse Mareka vielleicht vollkommen unwissend enthüllt hätte. Womöglich wäre Jerusha ihr dadurch bei der Wahl vorgezogen worden. Jerushas einziger Fehler hatte darin bestanden, ein denkfaules Kind, eine Sklavin herumzukommandieren, die zu neu war, um ihre verdammte Aufgabe richtig zu erfüllen.
Während Mareka zum Riberryhain schlenderte, prägte sie sich ihre Lektionen ein, all die Dinge, nach denen die Meister sie heute Nachmittag befragen könnten. Sie ging die acht Gaben der Riberrys durch: Same, Mark, Rinde, Holz, Schatten, Frucht, grüne Blätter, gemusterte Blätter.
Die grünen Blätter ergaben einen anregenden Tee, eine bittere Aufbereitung, die manch einem eifrigen Lehrling durch eine Nacht des Lernens hindurchhalf. Die gemusterten Blätter waren das wertvollste Geschenk der Riberrybäume. Die gelben Blätter, die sich an den äußersten Spitzen der Zweige entfalteten, waren die einzige für die gemusterte Raupe geeignete Nahrung, für die dicke, weiße Larve des gemusterten Falters.
Und gemusterte Raupen waren die einzige für die Octolaris geeignete Nahrung.
Mareka hatte während der vergangenen acht Jahre genügend weiße Raupen gesehen, um diese Viecher zu hassen. Jeden Morgen arbeitete sie für die Octolaris, sammelte die schleimigen Tiere von den sich gelb färbenden Riberryblättern. Jeden Nachmittag verfütterte sie sie an die Spinnen, so dass jede Octolaris groß würde, jede Spinne Seide spinnen würde, jede Spinne den Reichtum der Gilde vermehren würde.
Aber heute würde Schluss damit sein. Morgen hätte Mareka weit weg von den Raupen zu tun. Morgen wäre sie Gesellin.
Mareka schritt ohne Zögern
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