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Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin

Titel: Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mindy L. Klasky
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ältesten Linie von Gildemeistern entstammte. Sie erwartete, dass sie als Erste geprüft und alle Macht der Ersten Gesellin innerhalb der gesamten Gilde erlangen würde.
    Nun, das würde Mareka noch sehen. Sie wandte Jerusha bewusst den Rücken zu, richtete das Laken auf ihrem Bett, glättete automatisch die Spinnenseide, so dass sie über die Strohfüllung glitt und im Morgenlicht wie Milch schimmerte.
    Ihre Gildeschwester noch immer ignorierend, trat Mareka in die Mitte des Raumes und durchlief die anmutigen Gesten des Morgengebets, wandte sich allen Haupt- und Nebenhimmelsrichtungen des Kompasses zu, während sie in der heiligen Haltung für jeden einzelnen Teil des Tages verharrte.
    Sie sprach die Worte vor sich hin, bildete die Silben deutlich im Geiste. Erstens: Auf dass mein Morgen mit Hoffnung und Zuversicht beginnt. Zweitens: Auf dass mein Morgen mit Essen und Trinken voranschreitet. Drittens: Auf dass mein Morgen mit Arbeiten und Dienen fortfährt. Viertens: Auf dass mein Morgen mit Lernen und Belehrungen endet. Fünftens: Auf dass mein Nachmittag mit Arbeiten und Dienen beginnt. Sechstens: Auf dass mein Nachmittag mit Verehrung und Ehrerbietung weitergeht. Siebtens: Auf dass mein Nachmittag mit Essen und Trinken endet. Achtens: Auf dass meine Nacht mit Ruhe und Einsamkeit beginnt, damit ich den Octolaris noch einmal dienen kann.
    Sie führte dieses Morgengebet schon aus, solange sie sich erinnern konnte, selbst schon als kleines Mädchen, als sie noch bei ihren Eltern in deren Färberhütte neben der Mauer lebte, welche die Spinnengilde umgab. Ihre Mutter hatte das Gebet jeden Morgen laut intoniert, hatte die Worte in einen fröhlichen Gesang verwandelt, und ihr Vater hatte es leise gebrummt. Sie mussten ihr Gebet an diesem Morgen auch bereits dargebracht haben. Sie fragte sich, ob sie wegen ihrer Tochter aufgeregt waren, wegen des Kindes, das vor so langer Zeit ins Gildehaus aufgenommen worden war.
    Acht Jahre. Acht Jahre mit all den anderen Lehrlingen aufstehen, sich mit ihnen waschen, mit ihnen essen, mit ihnen arbeiten, mit ihnen schlafen.
    Es war an der Zeit, dass es geschah. Es war an der Zeit, Gesellin zu werden.
    »So kannst du die Meister nicht beeindrucken, weißt du, indem du das Morgengebet sprichst.« Jerusha musste gerade reden! Ihr Bett war klumpig und ihr Spinnenseidelaken zerknüllt, als hätte sie gerade auf ihrem Bett gesessen. »Es kümmert sie kaum, wie du betest. Sie werden sich auf die Octolaris konzentrieren, auf unser Können mit den Spinnen. So werden sie erwählen, wer aufsteigen wird. Sie werden heute nur eine wählen, weißt du. Eine Gesellin. Mich.«
    »Das weißt du nicht«, fauchte Mareka und bereute es sofort, dass sie sich zu einer Reaktion hatte hinreißen lassen. Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht provozieren zu lassen, hatte der Gehörnten Hirschkuh gegenüber einen heiligen Schwur geleistet. Sie würde sich nicht von Jerusha ärgern lassen. Nicht heute. Nicht wenn so viel auf dem Spiel stand.
    »Du hast dieselben Geschichten gehört wie ich. Du weißt, dass die Meister glauben, in der Vergangenheit zu nachsichtig gewesen zu sein.«
    Mareka schwieg, während sie ihr Haar zu den charakteristischen Doppelzöpfen eines Lehrlings flocht, ihr raues Schlafgewand auszog und ihre einfache, weiße Tunika anlegte.
    Sie mochte es nicht, wenn Jerusha ihr zusah. Es gefiel ihr nicht, wie das andere Mädchen ihren Körper abschätzend betrachtete. Ja, wollte Mareka herausschreien. Ich weiß, dass ich klein bin. Ich weiß, dass ich kaum so groß bin wie ein zehnjähriges Mädchen. »Ein Spinnchen«, hatte ihr Vater sie üblicherweise genannt, und von seinen rötlichen Lippen klang das Kosewort bezaubernd. Er war selbst ein kleiner Mann, der sich streckte, um über seine gewaltigen Färbebottiche zu gelangen, wenn er mit seiner Frau, mit Marekas Mutter, daran arbeitete, die voll Wasser gesogene Seide aus ihren Farbteichen zu nehmen.
    Letztendlich beschloss Jerusha, ihre Meinung für sich zu behalten, während Mareka die Tunika über ihre Hüften zog. Das ältere Mädchen verhöhnte Mareka nicht wegen ihrer Größe, wegen ihrer schmalen Schultern, wegen ihrer flachen Brust.
    Jerusha nahm sich jedoch einen Moment Zeit, ein wenig karmesinroten Puder auf ihre Lippen aufzutragen. Mareka wollte protestieren. Lehrlinge mussten rein sein. Sie mussten den Octolaris jederzeit gegenübertreten können. Sie durften die Spinnen nicht durch Düfte, optische Reize oder Klänge

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