Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
Flarissa. »Jetzt langsam. Gieß das Glas langsam. Wenn du magst, kannst du deine Augen schließen.« Rani tat es. »Während du gießt, atme ein. Atme aus.«
»Zwei.«
»Ja«, sagte Flarissa. »Atme ein. Atme aus.«
»Drei.«
»Ja. Es genügt, wenn du die nächste Zahl nur denkst. Aber du kannst sie auch leise vor dich hin sagen.«
Rani wusste, dass sie vier sagen konnte. Sie wusste, dass sie weiterhin das helle Kobaltglas gießen konnte. Aber es war nicht nötig zu sprechen, nicht nötig, sich zu bewegen, nicht nötig, sich aus den Tiefen ihrer Vision zu regen.
Flarissa wartete einen langen Moment, lange genug, damit das Glas auf dem Stein auszuhärten beginnen konnte. Rani sah vollkommen zufrieden zu. Sie war sich bewusst, dass sich Flarissa vorbeugte, ihr den Steingutbecher aus der Hand nahm, den Grünwein fortstellte. »Können wir jetzt mit dem Hypnotisieren beginnen, Ranita?«
»Ja«, flüsterte Rani.
»Ich möchte, dass du in Gedanken zurückgehst, Ranita. Denk an den wichtigsten Tag deines Lebens. An das Wichtigste, was du jemals getan hast. Stell dir dich an diesem Tag vor. Stell dir vor, was du trägst. Stell dir vor, wo du stehst. Kannst du dich sehen?«
»Ja.«
»Wenn du bereit bist, Ranita, dann sage mir, wo du bist.«
Es war schwer, die Worte auszusprechen, schwer, die weiche Decke der Entspannung abzustreifen. »Ich bin in der Kathedrale.«
»In welcher Kathedrale?«
»Im Haus der Tausend Götter. In Moren.«
»Wie alt bist du?«
»Dreizehn.«
»Was trägst du?«
Rani sah ihre Lehrlingskleidung, ihren kurzen, schwarzen Umhang, ihre enge Hose und die Tunika. Sie hatte diese Kleidung mit Stolz getragen, sie hatte solche Freude an dem goldenen Glasmaler-Symbol an ihrem Ärmel gehabt. Tränen brannten hinter ihren Augen, und ein Schluchzen stockte in ihrer Kehle. Flarissa sagte ruhig: »Dies geschah vor langer Zeit, Ranita. Du brauchst deine Geschichte nicht zu fürchten. Wir führen nur eine Hypnose durch. Stell dir das Glasgießen vor. Stelle dir den weichen, blauen Fluss vor. Da, Ranita… So…« Rani spürte, wie sich der Kummer in ihrer Brust löste. Flarissa summte leise. »Nun sage mir, was trägst du?«
»Meine Gildekleidung. Ich bin ein Lehrling.«
»Sehr gut, Ranita. Nun, wenn du bereit bist, erzähle mir, was geschieht.«
»Da ist Glas.«
»Ja?«
»Da ist Glas. Blaues Glas. Und Sonnenlicht. Sonnenlicht scheint durch das Glas.« Rani brach ab, verlor sich in der Erinnerung an diesen Tag vor so langer Zeit. Sie hatte sich trotz Verbots in die Kathedrale gestohlen. Sie beobachtete die Einführung Prinz Tuvashanorans, die Aufnahme des Mannes in die Kirche, als der Verteidiger des Glaubens. Sie hatte den Bogen eines Bogenschützen durch das Glas gesehen…
»Sprich mit mir, Ranita. Erzähle mir deine Geschichte.«
Nun, mit geschlossenen Augen, neben einer Kohlenpfanne im Zelt einer Gauklerin in Liantine sitzend, konnte Ranita jedes Detail der morenianischen Kathedrale sehen. Sie erinnerte sich der Einführungszeremonie, als erlebe sie sie erneut. Sie erzählte Flarissa, wie sie aufgeschrien hatte, wie sie versucht hatte, Prinz Tuvashanorans Leben zu retten. Sie erzählte, wie der Prinz dagestanden hatte, wie er sein Zeremonienschwert vom Altar genommen hatte. Er war herumgewirbelt. Er hatte versucht, die Gefahr auszumachen. Ein Pfeil war durch die Kathedrale geflogen und hatte, zitternd und tödlich, sein Auge getroffen.
Und die ganze Zeit, während Ranita sprach, blieb ihre Stimme ruhig und fest. Sie konnte die Geschichte vor sich sehen, so deutlich wie ein Glasfenster. Sie erzählte Flarissa, wie die Männer des Königs sie beschuldigt hatten, wie sie die Glasmalergilde zerstört hatten. Sie erzählte, wie sie geschworen hatte, die Gilde eines Tages wieder aufzubauen.
Und als sie endete, saß sie mit geschlossenen Augen neben der Bienenwachskerze und atmete langsam, während sie an der Erinnerung ihres Versprechens festhielt.
»Ich danke dir, Ranita.« Flarissas Stimme klang sanft, tröstlich, weich wie Grünwein. »Ich danke dir, dass du dich von mir hast hypnotisieren lassen.«
Rani hörte die Worte aus einer gewissen Ferne. Sie konnte ihre Finger nicht spüren, konnte ihre Zehen nicht spüren. Sie war weit von ihrem Körper entfernt, weit von ihrem Geist und ihren Erinnerungen und all den Problemen entfernt, die sie durch die Zeit wirbelten.
Flarissas Stimme hallte wider, als sie sagte: »Atme tief, Ranita. Spüre, wie die Luft durch deine Lungen fließt, spüre,
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