Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
gebrochen war. Auch Menschen mit den besten Absichten hielten sie für geistesschwach. Andere behaupteten, sie sei böse, als Rache für die Sünden ihrer Eltern von Geburt an befallen. Niemand glaubte, dass Berylina etwas Wichtiges zu sagen oder zu denken oder zu tun haben könnte.
»Mylady…« Aber Pater Siritalanu war anders. Er blickte hinter Berylinas physisches Selbst. Er sah mehr als nur ihr Gesicht, als nur ihr Haar. Er verstand die Gestalt ihrer Seele, die Perfektion, die sie im Dienste an all den Tausend Göttern in ihrem Herzen bot. Er erkannte ihre vollkommene Leidenschaft, den Glauben, der in ihrem Inneren brannte. »Mylady, Ihr müsst wissen, dass ich Euch kein Missfallen bereiten wollte.«
»Aber es würde mir unsagbar gefallen, den Tausend Göttern diese Ehre zuteilwerden zu lassen.«
»Mylady, was Ihr vorschlagt, könnte Ketzerei sein!«
»Ist es Ketzerei, den tiefen Sinn der Götter in sich zu finden? Die Pfade unseres Geistes zu beschreiten – eines Geistes, den die Götter selbst schufen –, um den Weg zu finden, den sie verehrt sehen wollen? Ist es Ketzerei, sich von den Tausend Göttern hypnotisieren zu lassen?«
»Aber Ihr würdet Euch nicht von den Göttern hypnotisieren lassen, Mylady.« Der Priester beantwortete ihren Gefühlsausbruch mit stiller Qual. »Ihr würdet Euch von mir hypnotisieren lassen.«
»Und Ihr seid der Bote der Götter in dieser Welt!«
»Ein Bote, Mylady! Nicht die Götter selbst! Was ist, wenn ich makelbehaftet bin? Was ist, wenn ich es nicht wert bin, Euch auf diesem Weg zu führen?«
Berylina hörte die Verzweiflung in der Stimme des Priesters, die reine Angst hinter seinen Worten. Pater Siritalanu – der Mann, der sie vor der Schmach, im Hause ihres Vaters zu leben, gerettet hatte, der Priester, der sie vor einem Königreich gerettet hatte, das eine unheilige Göttin des Blutes und des Todes anbetete, der sie davor bewahrt hatte, als bewegliches Eigentum an Halaravilli ben-Jair verschachert zu werden – Pater Siritalanu hatte Angst.
»Pater!«, rief Berylina aus. »Ihr könnt doch hierbei nicht an Euch zweifeln!«
»Ich zweifele bei allen Aspekten Eures spirituellen Lebens an mir, Mylady. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, frage ich mich, ob ich ausreichend erfahren bin, um Eure Anbetung zu leiten. Jeden Abend frage ich mich, ob ich Euch auf dem rechten Pfad gehalten habe.«
»Aber Ihr seid ein Priester, Pater Siritalanu. Ihr seid mein Priester.«
»Nichts hat mich auf eine solche Ehre vorbereitet, Mylady. Als ich als Junge zur Priesterschaft kam, bildete man mich auf dem rituellen Weg aus. Man lehrte mich Formeln, um die Götter zu ehren. Man lehrte mich Traditionen.«
»Wenn die Götter uns anleiten, schaffen wir neue Traditionen, Pater.«
»Aber woher soll ich das wissen? Wie soll ich wissen, ob das, was Ihr fordert, die Anleitung der Götter ist oder nur die Stimme Eures Stolzes?« Sie hielt bei der Beschuldigung den Atem an, und er fügte hastig hinzu: »Stolz, den Ihr äußerst verdientermaßen hegt, Mylady! Bei allen meinen Studien, bei allen Gesprächen mit meinen Priesterkollegen, habe ich niemals von einem Büßer gehört, der solche Eingebungen wie Ihr erhält. Die Götter sprechen auf Arten zu Euch, von denen die meisten Menschen nur träumen können. Wer bin ich, dass ich das ermessen will? Wer bin ich, dass ich das lenken will?«
»Ihr habt mir ausreichend vertraut, um mit den Gauklern zu sprechen, als ich Euch darum bat, um zu erfahren, wie sie ihre Hypnose durchführen.«
»Mylady, ich würde mit jedermann sprechen, wenn Ihr mich nur darum bittet. Ihr wisst, dass ich Euch geweiht bin.«
»Was hat sich dann geändert? Warum habt Ihr jetzt Angst, mich den Gauklerweg hinabzugeleiten?«
»Niemand hat so etwas im Dienste der Tausend Götter jemals getan.«
Berylina atmete tief ein, und ihre Nase war vom Duft von Flieder erfüllt, das vertraute Zeichen Hins, des Gottes der Rhetorik. Sie bekämpfte den Drang, ihre Lippen zu einem hasenähnlichen Lächeln zu verziehen. Wenn Hin sie anleitete, wusste sie, dass sie bei dieser Debatte siegen würde. Sie wählte ihre Worte sorgfältig, platzierte sie zwischen zwei fliederduftende Atemzüge. »Und wenn Hypnose neu ist, denkt Ihr dann, sie müsse böse sein?«
»Ich weiß es nicht, Mylady!«
Der Duft wurde noch intensiver. »Was wäre gewesen, wenn sich die ersten Priester gefürchtet hätten, Altäre für die Götter zu errichten?«
»Macht Euch nicht lächerlich, Mylady.«
»Was wäre,
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