Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
König Halaravilli zu bitten, sie auf dem Kathedralengelände wohnen zu lassen, sie unter den Priestern und ihren Caloyas leben zu lassen. Sie hatte jedoch nicht den Mut gefunden, eine solche Bitte auszusprechen. Es wäre leichter, nachdem sie nach Brianta gereist war, nachdem sie eine abgestempelte und versiegelte Pilgerrolle als Beweis der Tiefe ihrer Hingabe besäße.
Der Platz vor dem Haus der Tausend Götter war von Trauernden erfüllt – Adlige, Händler, Gildeleute, Soldaten, sogar einige Unberührbare an den Rändern der Menge. Die Kathedrale selbst wäre bereits von Adligen und Priestern, Mitgliedern der eigenen Kaste der königlichen Familie erfüllt. Nichtsdestotrotz spürten alle Menschen in Moren den Schmerz ihres Lehnsherrn. Alle wollten ihrem Kummer mit Gebeten, mit Gesang, mit Gaben an die Götter Ausdruck verleihen.
Berylina war nicht überrascht, als Siritalanu sie am Rande des Hauses der Tausend Götter entlang zur Tür des Querschiffs führte. Dort waren weniger Menschen, die vor der Macht der beiden grünen Gewänder zurückwichen. Berylina neigte zum Dank den Kopf, hielt den Blick auf ihre Füße gerichtet. Ihre Wangen röteten sich, als sie an all die Leute dachte, die sie beobachteten. Plötzlich fiel ihr das Schlucken schwer. Sie bekämpfte den Drang, ihre Hände zu Fäusten zu ballen, zu Nichts einzuschrumpfen.
Pater Siritalanu verstand fraglos, wo Berylina gerne ihre besonderen Trauergebete vollführen wollte. Er führte sie zu der großen Seitenkapelle, die Nome geweiht war. An einem gewöhnlichen Tag wurde der Gott der Kinder von Tausenden von Andächtigen geehrt. Sein Altar war groß, und die Decke des Raumes war vom Ruß der Flammen verhüllt, die zu seinen Ehren brannten. Heute war jeder Zentimeter des Altarraumes mit angezündeten Wachskerzen bedeckt.
Berylinas Hand zitterte, als sie ihre eigene Kerze erwählte, die sie hinzufügen wollte und für die sie eine schwere Goldmünze einbüßte. Sie wartete darauf, dass drei Frauen vom Altar zurückträten und ignorierte die mitleidigen Blicke, mit denen sie ihr Gesicht bedachten. Stattdessen nahm sie den leeren Platz vor dem Marmorblock ein und sank auf die Knie. Sie hob ihre Kerze an eine andere, bereits brennende und zündete sie daran an.
Der Docht fing Feuer und loderte hoch auf, zog Berylinas Aufmerksamkeit auf die eingemeißelten Buchstaben an der Vorderseite des Altars. NOME. Die Buchstaben waren tief eingemeißelt, der Marmor stark hervorgehoben, zu sanften, horizontalen Linien gebogen. Während Berylina ihren Geist dem Gott der Kinder öffnete, hörte sie seinen Namen in ihren Gedanken, hörte die Melodie des kecken Flöters, die seine einzigartige Signatur war.
Natürlich konnte sie nicht all die Götter hören. Einige kamen als Farben zu ihr. Einige waren Düfte. Einige wenige waren Geschmäcker, die sich auf ihrer Zunge ausbreiteten. Berylina wusste, dass sie anders war, dass es seltsam und wundervoll war, dass sie die physische Gegenwart der Götter spüren konnte. Sie bemitleidete die anderen Gläubigen, diejenigen, die nur Marmor und Farbe sahen, nur von Bittstellern hinterlassene Kerzenflammen. Ihnen entging so viel. Sie erkannten niemals die wahre Natur der Wesen, zu denen sie beteten.
Nome bewahre uns, dachte sie, während sie sich auf die Knie niederließ. Nome behüte uns vor Schaden.
Das war jedoch ein lächerliches Gebet. Sie war nicht in Gefahr. Sie brauchte Nomes Schutz nicht. Nein, sie hätte vor zwei Wochen zum Gott der Kinder beten sollen. Sie hätte sich an ihn wenden sollen, als er an jenem sonnigen Morgen zum ersten Mal einige Noten für sie spielte, als sie zu König Halaravillis neuer Seidenhalle ging.
Damals hatte sie Nome neben sich gehört. Sie kannte ihn gut – er war häufig zu ihr gekommen, als sie noch in Liantine lebte. Am Tag der Seidenauktion hatte sie seine Flötenmelodie gehört, wie die Lieder, die ihre Kindermädchen ihr in ihrem liantinischen Kinderzimmer vorsangen, als sie noch ein kleines Kind war. Nome hatte am Tag der Seidenversteigerung drängend gespielt, hatte seine Noten in ihre Morgengebete gezwängt. Sie hatte ihn gehört, als sie in der Ecke ihres Raumes beim Betpult kniete, und dann wieder, als sie am Kinderbrunnen mitten im Adligenviertel vorüberging. Die geschnitzten Spielzeuge, die von dem uralten Brunnen herabhingen, hatten im Morgenwind getanzt, ihre Gelenkarme schwingend, ihre Köpfe nickend, als bewegten sie sich im Takt der Musik des Gottes.
Berylina hatte
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