Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
wenn sich die ersten Priester gefürchtet hätten, Kerzen für die Götter anzuzünden?« Der Duft war so intensiv, dass er ihr wie ein physisches Gebilde in der Luft um sie herum erschien.
»Mylady…«
»Was wäre, wenn sich die ersten Priester gefürchtet hätten, ihre Gebete laut zu sprechen?« Hin war neben ihr, in ihr, gestaltete ihre Argumente für sie.
»Das ist absurd, Mylady!«
»Ist es das? Könnt Ihr, im Namen Hins, behaupten, dass jene Argumente absurd sind?«
Pater Siritalanu seufzte und zuckte die Achseln, beugte und streckte die Hände. Die Bewegung schien Hin zu befreien, den Gott zu entlassen, aber der Priester war sich seines Weggangs anscheinend nicht bewusst. »Nein, Mylady. Bei Hin, ich kann diese Argumente nicht mit Rhetorik beantworten.«
Berylina nutzte ihren Vorteil und sandte der geschwundenen Gottheit rasch ein lautloses Dankgebet nach. »Dann ist das Hypnotisieren vielleicht einfach die nächste Form der Anbetung, welche die Götter wünschen. Vielleicht ist es wie die Gebete, die Menschen im Geiste sprachen, bevor sie angeregt wurden, laut zu beten.«
»Vielleicht…« Der Priester seufzte.
Berylina spürte, dass er fast bereit war, sich geschlagen zu geben. Sie drängte voran: »Als Ihr Euch mit den Gauklern traft, hattet Ihr da das Gefühl, dass es den Göttern missfiel?«
»Nein, Mylady.«
»Wurde der Himmel dunkel? Wurde der Tag kalt?«
»Natürlich nicht.«
»Hat sich Euer Körper vor Schmerz verkrampft? Wurde Euer Geist befallen, so dass Euch die Worte nicht einfielen, die Ihr sagen wolltet?«
»Nein.«
»Dann, Pater, hat es die Götter nicht beunruhigt, dass Ihr das Hypnotisieren erlernt habt.«
»Sie haben ihr Missfallen nicht gezeigt. Noch nicht.«
»Dann sollten wir es versuchen. Wir sollten versuchen, das Hypnotisieren als eine Möglichkeit zu betrachten, die Götter zu verehren. Überlasst Euch den Tausend, Pater. Wenn sie unser Handeln ändern wollen, dann haben sie die Macht dazu.«
»Ja, Mylady«, flüsterte der Priester, und Berylina unterdrückte ein Lächeln.
Sie war sich so sicher, dass sie Recht hatte. Sie hatte Ranita Glasmalerin häufig vom Hypnotisieren erzählen hören. Sie begriff die Macht dieses Zustands, die Kraft des Geistes. Diese Energie in den Dienst an den Tausend Göttern einzuspannen…
Bevor Berylina jedoch noch etwas sagen konnte, erklang eine Glocke. Tief und stetig, sandte der Klang einen langen Schauder ihr Rückgrat hinab. Tarns Totenglocke. Die größte der Bronzeglocken der Kathedrale läutete nur, um die Gläubigen zu Beerdigungen zu rufen, zu den anstrengenden Gottesdiensten, bevor die Körper der Gläubigen den Scheiterhaufen übergeben wurden.
Während des Streits war mehr Zeit vergangen, als Berylina erkannt hatte. Siritalanu zu überzeugen, hatte den ganzen Vormittag gebraucht. Sie hätte schon lange in der Kathedrale sein sollen. Sie hatte vorgehabt, vor dem Gottesdienst des Tages zusätzliche Gebete darzubringen. Nun wäre die Zeit knapp, auch nur noch einen der Götter anzurufen.
»Kommt, Pater«, sagte Berylina. »Wir werden dies später fortführen. Wir werden nach der Beerdigung sehen, was die Götter vom Hypnotisieren halten.«
Berylina warf einen Umhang über ihr einfaches Gewand und brauchte nur einen Moment, um ihr drahtiges Haar unter einen Schleier zu stopfen. Sie ergötzte sich noch immer an ihrer grünen Kleidung, an der leuchtenden Beteuerung ihres Glaubens. Sie hatte der Kirche gegenüber noch nicht ihre formellen Schwüre geleistet – sie erwartete, das in Brianta zu tun, der wahren Heimat des Ersten Pilgers Jair –, aber Siritalanu hatte zugestimmt, dass sie sich wie eine Caloya kleiden durfte, wie eine Frau, die einem Leben im Dienste der Kirche verschworen war. Das hatte sie sich mit ihrem Glauben und ihrer Hingabe verdient. Das wurde ihr von den Göttern gewährt, die zu ihr kamen, sich mit ihren wundervollen und unvorhersehbaren Gegenwarten, ihren Düften und Geschmäckern und Ansichten zeigten.
Siritalanu ging ihr aus ihren Räumen im königlichen Palast voraus, schritt rasch durch die Straßen der Stadt. Sie kamen an nur wenigen Menschen vorüber, da Moren offiziell trauerte. Es war befohlen worden, dass zu Ehren der traurigen Begebenheit dieses Tages alle Läden geschlossen wurden, und viele Heime waren mit düsteren, schwarzen Fahnen behangen.
Berylina kannte diese morenianischen Durchgänge gut. Sie ging jeden Tag mehrmals zur Kathedrale und zurück. Tatsächlich hatte sie erwogen,
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