Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Tränen kamen, hinter ihren Augen heiß und pulsierend aufstiegen, spürte sie Pater Siritalanus Berührung an ihrer Schulter.
»Mylady«, flüsterte er. »Grämt Euch nicht so.«
»Ich kann ihn nicht spüren«, sagte Berylina, entsetzt befürchtend, dass andere Pilger sie in dem engen, dunklen Raum hören könnten. »Ich kann alle Götter fühlen oder riechen, schmecken oder hören oder sehen, aber der Pilger ist für mich unsichtbar.«
»Im Moment«, schalt Pater Siritalanu. »Im Moment. Kommt, Kind. Kniet Euch hierher, in die Mitte des Raumes. Vergesst die Reliquien. Vergesst die Zeichen. Kniet Euch unter die Kerze, und sagt Eure Gebete mit mir auf.«
Berylina ließ sich von dem Priester hochhelfen. Sie ließ sich von ihm zu dem erhöhten Altar in der Mitte des Raumes führen. Unter der Kerze lag ein Kinderspielzeug, eine Kugel, die aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt war, so weiß wie die darüber befindliche Kerze.
Berylina hielt den Atem an, während sie das Spielzeug betrachtete. Es war vollkommen glatt, vollkommen ebenmäßig. Es waren keine Male auf der Oberfläche zu sehen, nichts, was einen Betrachter ablenken könnte, nichts, was das Zählen des Gegenstandes stören könnte. Es war eins. Ein ungeteiltes Stück. Eine einzige Einheit.
»Da, Mylady«, flüsterte Pater Siritalanu. »Da ist Jairs erste Reliquie. Meditiert darüber, und findet Frieden. Findet Kraft.«
Berylina wandte den Kopf zur Seite, damit sie Siritalanu mit ihrem gesunden Auge ansehen konnte. Verstand er? Hielt er sie für verrückt, für unfähig, eine Art Beziehung herzustellen?
Nein. Er glaubte an sie. Das hatte er immer getan.
Berylina atmete tief ein und senkte den Kopf. Als sie ausatmete, hörte sie ein leises Pfeifen, das Geräusch von Luft, die über ihre vorstehenden Zähne strich. Sie verdrängte ihre Verlegenheit jedoch, verdrängte ihren Zorn und ihre Enttäuschung über ihr Anderssein. »Heil, Heiliger Pilger Jair«, begann sie.
Dieses Mal waren die Worte anders. Dieses Mal waren sie kraftgeladen, bedeutungsvoll, während sie sich hinten in ihrer Kehle bildeten. »Heil, Heiliger Pilger Jair«, wiederholte sie. Eine Vision baute sich in ihr auf. Nein, keine Vision. Jair war keine Gestalt. Er war keine Farbe, kein Geruch, kein Geschmack. Er war eine feste, vollständige Ganzheit, eine undurchdringliche Kugel. Er war die Macht und die Essenz und die massive Struktur der Kugel, die auf der Plattform lag, des Kinderspielzeugs, das genau die Mitte des Tempels zierte.
Berylina spürte die Ganzheit in ihrem gesamten Geist. Sie verstand sie mit jeder Faser ihres Körpers. Sie streckte sich nach der Kugel aus, streckte die Finger zu ihrer unendlichen Vollständigkeit aus. »Betrachte diese Büßerin mit Gnade und Mitgefühl«, sagte sie, und sie begriff die Worte. Sie wusste, dass sie wahr waren. Sie nahm die Macht in sich auf, die sie als eindeutig von Jair kommend erkannte, die aus der Heiligkeit dieses Ortes erwuchs, und hob die Stimme: »Und segne die Reise, die sie in deinem Namen unternimmt.«
In einem kleinen Teil ihres Geistes erkannte Berylina, dass andere Pilger sie anstarren mussten. Sie mussten auf sie konzentriert sein. Sie konnten sie kaum ignorieren, während sie um Aufmerksamkeit für ihre eigene Huldigung, für ihre eigene Erkenntnis der Macht und des Ruhms Jairs rangen.
Dennoch konnte Berylina die Sicherheit in sich nicht auslöschen, das absolute Wissen, dass sie Recht hatte, dass sie stark war, dass sie den wahren Kern des Ersten Pilgers Jair offenbarte, oder dass er ihr offenbart wurde. Ihre Stimme erschallte: »Bewahre und beschütze sie vor Schaden, damit sie all den Tausend Göttern weiterhin in deinem Namen huldigen kann.« Tränen strömten ihr Gesicht herab, und sie streckte die Arme aus, hielt sie dem Kinderspielzeug entgegen, als rufe sie den unmittelbaren Kern des Universums an. »Gesegneter Jair, wir danken dir für deine Führung und deine Weisheit.«
Die Kugel bewegte sich.
Sie rollte von der Mitte des Altars fort, aus der Mitte des Raumes fort, von dem genauen Platz fort, wo Jair vor über einem Jahrtausend zwischen den Knien seiner Mutter geboren wurde. Von irgendwoher Kraft sammelnd, von einer geheimen Quelle Macht aufnehmend, rollte die glatte, weiße Kugel über den Altar und in Berylinas wartende Hände.
Sie konnte die Macht spüren. Sie konnte die Energie des Ersten Pilgers Jair unter der glatten Oberfläche pulsieren spüren. Sie gewahrte mehr Farben, als sie jemals gekannt
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