Die gläserne Gruft
Pest gewesen. Da waren viele Menschen aufs Land geflohen und hatten in Leuben an der Elbe bei dieser Frau Unterschlupf gefunden.
Von vielen Menschen war sie wie eine Heilige verehrt worden, ohne allerdings von der offiziellen Kirche als solche anerkannt zu werden. Das hatte dieser Frau nichts ausgemacht, sie war weiterhin ihren Weg gegangen. Und irgendwann mussten sich die Wege des Henkers und der ihre gekreuzt haben. Der Professor wusste nicht, wann sie zusammengetroffen waren und ob es die Totenkrone da schon gegeben hatte. Er ging allerdings davon aus, sonst hätte er sie nicht als Lohn für seine grausame Arbeit einfordern können.
Dass die Totenkrone verschwunden war, stand fest. In alten Aufzeichnungen hatte er die Hinweise gefunden, die allesamt nach Leuben wiesen, und da war Harald Pflug von einem Jagdfieber gepackt worden. Für ihn gab es nur noch eine Lösung.
Die Krone war in Leuben versteckt!
Viele Kriege und Wirren waren seitdem über das Land hinweggezogen. Heute hatte Leuben keine Bedeutung mehr. Da war Pillnitz wichtiger, das ganz in der Nähe lag. Zu diesem Schloss strömten Touristen aus aller Welt. Das Heim der frommen Frauen jedoch war vergessen worden.
Harald Pflug hatte weiterhin gesucht und nachgeforscht. Er wollte Spuren finden. Er besaß die alten Bücher und hatte herausgefunden, dass Anette von Leuben auch dort ihr Grab gefunden hatte. Und wahrscheinlich lag darin auch die Totenkrone. Um an sie heranzukommen, hätte man das Grab öffnen müssen.
Mehr konnte er nicht finden. Aber es hatte sich gelohnt. Pflug erinnerte sich daran, was er Carola Schiller versprochen hatte. Wenn es etwas Neues gab, wollte er sie anrufen.
Zunächst brauchte er einen Schluck Wasser. Seine Kehle war trocken. Er verließ sein Arbeitszimmer im Museum und ging dorthin, wo ein Automat stand. Dort konnte er unter einigen Getränken wählen und entschied sich für klares Wasser.
Um ihn herum hatte sich die abendliche Stille gesenkt. Jedes Geräusch kam ihm überlaut vor, und er bemühte sich, leise zu sein. Er öffnete die Dose und setzte zum ersten Schluck an. Das kalte Wasser tat ihm gut. Trinkend und dabei langsam schreitend, erreichte er sein kleines Büro.
Die Lampe streute ihr Licht über den Schreibtisch hinweg. Das hohe Fenster lag im Dunkeln. Was draußen ablief, sah er nicht. Noch mal ließ er sich alles durch den Kopf gehen und gelangte zu dem Schluss, dass er nicht mehr für Carola Schiller tun konnte. Er machte sich einige Notizen und klemmte den Zettel über den Fuß der Schreibtischleuchte.
Dann griff er zum Telefon!
Zufall oder Schicksal – jedenfalls sah er den Schatten, der wie aus dem Nichts erschienen war. Er huschte an der Fensterscheibe entlang, und Pflug hatte den verdammten Umriss genau erkannt.
Es war der Henker!
Plötzlich schrillten in seinem Kopf die Alarmglocken. Er hielt den Atem an, schaute nur auf die eine Seite am Fenster und bemerkte den Schatten in der Scheibe. Er stand dort, als wäre er eingefroren. Das war ein Bild, das er nicht fassen konnte. Der Henker war kein Mensch aus Fleisch und Blut, allerdings auch keine Einbildung. Er war zu einem Gebilde geworden, das sich schattenhaft bewegen konnte.
Schaute er durch das Fenster in das Büro?
Harald Pflug wusste es nicht. Er war nur nicht in der Lage, den Blick abzuwenden, bis er schließlich über seine Augen wischte, anschließend noch mal hinschaute und sah, dass es den Schatten nicht mehr gab. Die Dunkelheit draußen schien ihn geschluckt zu haben.
Jemand stöhnte tief. Erst Momente später stellte der Professor fest, dass er es gewesen war, der das Stöhnen abgegeben hatte. Die Entdeckung hatte ihm zu schaffen gemacht.
Für ihn gab es keinen Zweifel, dass der lebendig begrabene Pesthenker sich in seiner Nähe befand. Es gab ihn. Da hatte sich seine Freundin Carola nicht getäuscht. Jetzt überkam ihn wieder das große Zittern. Er war kein Held wie die auf der Leinwand. Er war Wissenschaftler und ein normaler Mensch, der sich bisher in seinem Leben mit dem Vergangenen beschäftigt hatte, aber nicht mit einer Vergangenheit, die lebte und ihre schlimmsten Erinnerungen schickte.
Er wollte auch nicht darüber nachdenken. Wichtig war für ihn, dass er hier wegkam.
Harald Pflug hatte sich schon halb von seinem Stuhl hochgedrückt, da fiel ihm wieder der Anruf ein. Er hatte Carola versprochen, dass er ihr Bescheid sagen würde, und daran wollte er sich halten. Daran musste er sich halten. Jetzt mehr als je zuvor.
Er
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