Die gläserne Gruft
darüber machte ich mir keine Gedanken. Ich wollte erst mal nach dem Geburtstagskind Ausschau halten.
Ich entdeckte Harry schließlich in der linken Ecke. Er drehte mir den Rücken zu und war damit beschäftigt, ein Geschenk auszupacken. Bekleidet war er mit einem weißen Hemd und einer hellbraunen Cordhose.
Ich ging langsam auf ihn zu. Dabei musste ich immer wieder anderen Gästen ausweichen, die mich anlachten, locker begrüßten oder mich aufforderten, etwas zu trinken.
Natürlich hatte auch ich ein Geschenk für Harry. Aber was bringt man einem Freund mit, der eigentlich alles hat?
Ich war dann auf die Idee gekommen, ihm ein Buch zu schenken. In ihm war die Geschichte von Scotland Yard dokumentiert worden.
Harry hatte mich nicht gesehen. Aber es war ihm inzwischen gelungen, das Geschenk auszupacken. Auch ein Buch. Aber über Leipzig, der Stadt, aus der er kam.
»Danke, danke, Freunde. Ihr habt mir einen großen Gefallen getan. Wer einmal dort zu bestimmten Zeiten gelebt hat, der wird diese Zeit nicht vergessen können.«
»Das glaube ich dir gern!«, sprach ich förmlich in sein Ohr hinein.
Harry stutzte für einen Moment. Ich glaubte auch, bei ihm ein glucksendes Lachen zu hören, und plötzlich fuhr er auf der Stelle herum und schrie meinen Namen so laut, dass alle Gäste ihn hören konnten.
Im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen. »Mein Gott, wie freue ich mich, dass du gekommen bist.« Immer wieder schlug er mir dabei auf die Schulter, dass ich schon Angst um meine Knochen bekam. Als wir uns lösten, schimmerten sogar Freudentränen in seinen Augen.
Plötzlich war auch Dagmar Hansen da, die mir um den Hals fiel. Ich konnte endlich meine Blumen loswerden.
»Gut siehst du aus, Dagmar.«
»Oh danke.«
Ich hatte nicht übertrieben. Mit ihrem naturroten Haar war sie wirklich eine Augenweide. Natürlich gehörten dazu auch leicht grünliche Pupillen, die einen warmen Schimmer aufwiesen.
»Jetzt sind wir perfekt!«, jubelte sie und trommelte mit ihren Fäusten leicht gegen meine Brust. »Das Essen steht in der Küche. Du kannst dich selbst bedienen und...«
»Moment mal!«, mischte sich Harry ein. »Das ist mein Geburtstag, und ich werde meinen Freund erst mal vorstellen.«
Es passte mir zwar nicht, so im Mittelpunkt zu stehen, aber Harry war das Geburtstagskind, und dem durfte man an diesem Tag keinen Wunsch abschlagen.
Harry stand direkt neben der Musikanlage. Er drehte den Ton leiser. Robby Williams’ Stimme versank mit einem Gurgeln. Dennoch dauerte es seine Zeit, bis alle Gäste bemerkt hatten, dass Robby nicht mehr sang.
Harry hatte Zeit, mir etwas zuzuflüstern. »Danke, dass du gekommen bist. Ich freue mich gewaltig. Wir werden so richtig einen durchziehen, das kann ich dir versprechen.«
»War doch Ehrensache.«
»Und du übernachtest natürlich bei uns und nicht in irgendeinem Hotel.«
»Naja, wenn Dagmar nichts dagegen hat.«
»Unsinn.«
Harry Stahl hob seine Arme und bewegte dabei die Hände. »Hört her, Leute«, sagte er mit lauter Stimme. »Ich muss euch etwas verraten. Das ist mein Freund John Sinclair aus London. Einige von euch werden seinen Namen kennen, doch jetzt könnt ihr ihn live erleben.«
Es war wie auf einer Bühne. Einige Gäste fingen an zu klatschen. Andere wiederum johlten – besonders die weiblichen – und wieder andere klopften auf die Tische.
»He!«, rief eine Frau. »Der sieht ja viel jünger aus als du, Harry.«
»Das ist nur äußerlich. In Wirklichkeit bin ich jünger.«
»Na, das musst du bei Dagmar beweisen.« Die Frau kicherte. »Sie hat mir gar nicht erzählt, welch ein toller Bursche du bist.«
»Lass uns unsere kleinen Geheimnisse«, stand Dagmar ihrem Freund bei. Dann drückte sie mir ein Glas Sekt in die Hand. »So, und jetzt wollen wir noch mal auf das halbe Jahrhundert anstoßen, das du gepackt hast, Harry!«
Er verzog das Gesicht. »Muss das sein?«
»Warum nicht?«
»Das macht mich so alt.«
Wir tranken. Auch mir tat der Schluck gut, denn ich spürte großen Durst. Abschließend hakte Dagmar sich bei mir unter, nachdem ich das Geschenk abgelegt hatte, und führte mich in das Schlafzimmer, wo sie die Tür schloss. Da die Garderobe überfüllt war, konnte ich meine Jacke über einem gelben Sessel ablegen, der aussah wie eine schräg gestellte und übergroße Muschel.
Ich wusste, dass Dagmar mit mir reden wollte, und fragte deshalb: »Alles in Ordnung bei euch?«
Dagmar hatte ihr Sektglas mitgenommen, schaute hinein und
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