Die Glasfresser
immer mehr Fälle von Ansteckungen in Grund- und Mittelschulen, und daher sei es besser vorzubeugen.
An dieser Stelle ist sich Morana - der Infizierte, der Ansteckungsherd - mit der Hand durch die Haare gefahren, die dicht, fein und hell sind, wie bei einem Skandinavier, und schmutzig. Ich habe mir sein gebeugtes Handgelenk angeschaut und an der Farbe erkannt, dass er sich wohl seit Tagen die Hände nicht gewaschen hatte. Zwischen Fingernägeln und Fingerkuppen war es schwarz, und im Gesicht hatte er dunkle Anzeichen von Krankheit.
Nur dass Morana immer so ist. Er ist schon das ganze Jahr lang abstoßend. Was ich bei ihm bewundere, ist das Ausmaß der Misslichkeiten. Die vor allem sozialer Art sind: undurchschaubare
Familie, ständiges Zuspätkommen am Morgen, die Entschuldigungen von seiner Mutter, in der ungelenken Handschrift einer Halbanalphabetin geschrieben. Nur in der Folge sind es körperliche Misslichkeiten, als wäre sein geschundener Körper ein Produkt seines Familienlebens und ein ständiger Quell des Schmerzes: ein Herd eben. Misslichkeiten eines solchen Ausmaßes, dass sie sich nicht auf etwas Pittoreskes, auf Folklore reduzieren lassen. Denn in der Vorstellungswelt der Klasse schien Morana dazu bestimmt zu sein, Opferlamm und Sündenbock zu werden, derjenige, auf den sich alles Böse konzentriert, das ohne Schlechtigkeit, ohne Arglist getan wird, das Böse, das hervortritt, wenn man gereizt ist und eine kleine Gemeinheit begehen muss. Potenziell war Morana dies: der gepeinigte Klassenkamerad, den du täglich grausam an seiner ausgegrenzten Existenz leiden lässt und dessen Tränen du dann nicht verstehst; doch dass er grundsätzlich abstoßend war, immer und authentisch randständig, hat uns, ohne dass es uns bewusst gewesen wäre, daran gehindert, ihn vollkommen zu zerstören. Wie im Rudel das sterbende Tier abgesondert, aber doch geachtet wird. Abgesondert, weil es stirbt, und geachtet, weil es allein durch diese Tatsache einen Millimeter von der Erleuchtung entfernt ist.
Morana also hat sich am Kopf gekratzt, und ich habe ihn beobachtet, habe ihn verdächtigt und dann den Verdacht zurückgezogen, weil ich wusste, dass es dumm war, denn er war der ewige Schuldige, also meist unschuldig.
Wir haben die Läusehefte in die Schulranzen gesteckt, und der Unterricht ist weitergegangen.
Nach der Schule gehe ich mit Scarmiglia und Bocca weg. Wir nehmen die Straße, die von der Piazza De Saliba Richtung Piazza Strauss führt. Scarmiglia und ich wohnen in der gleichen Gegend, Bocca nicht, aber er begleitet uns trotzdem, um zu reden. Und außerdem sind diese Zonen sein Reich. Das Gebiet der Pornonester. Engste Gassen, seit Jahrzehnten abgestellte Autos, voll mit aus den Sitzen gequollenem Stroh, die Reifen gestohlen - die Felgen dunkle, metallische Scheiben, die sich wütend unter den
Kotflügeln biegen -, struppigstes Dornengebüsch, Stacheldickicht, durch das sich Bocca trotz seiner Rundlichkeit hindurchzwängt, die Pornonester erreicht und mit bloßen Händen die von erregt aus dem Erdboden ans Licht strebenden Trieben durchbohrten Heftchen aufsammelt, die Umarmungen in der Mitte durch einen Zweig gespalten, über den Straßen roter Ameisen gehen und der sich zu unserer Brust hin krümmt, wie eine Wünschelrute das Blut in unseren Adern sucht. Wie eine erotische Blume pflückt Bocca jedes Mal das Heft mit den Pornosternchen - Sterne, Kometen, Himmelsboten, unversehens auf die Erde gestürzt und halb unter Eisendraht, Splitt und Reifengummi verschüttet, Wegweiser zum schrecklichen Geburtsort unserer lüsternen Blicke -, löst eine Seite von der anderen und schenkt unseren flatternden Augen Türme aus Gliedern, Massen von Genitalien, Archipele sich streckender Körper.
Wir bleiben auf der Piazzetta Chopin, stellen die Schulranzen auf den Boden und setzen uns auf ein niedriges Mäuerchen, das ein Beet umgibt.
Um uns herum sind irgendwie weiße gewöhnliche Mietshäuser, gewöhnlich acht Stockwerke hoch, mit den gewöhnlichen gemauerten Balkons, die Fassade durch zaghafte, dunklere oder hellere Streifen gegliedert, doch stets rechtwinklig, in christdemokratischen Vierecken. Und unten die kleinen Gartenanlagen, bei denen mir noch immer der Atem stockt, wenn ich an die langen zähen Nachmittage zurückdenke, die mit sinnlosem Spielen zwischen Rad, Sand und Wippe vergingen - Mund am schwingenden Seil, staubiger Geschmack von Hanf.
Artig, wie wir dasitzen, suchen Bocca, Scarmiglia und ich eine andere
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