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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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ich, »sind die Einzigen, die verstanden haben, dass der Traum verwelkt, wenn er ein Traum bleibt.«
    »Ja, so ist es«, sagt Bocca.
    Scarmiglia schaut uns an, schweigt, man sieht, dass er lächeln muss, es gefällt ihm, dass wir seinem Gedanken folgen.
    »Die Roten Brigaden haben begriffen«, sagt er dann mit sehr leiser Stimme, »dass der Traum mit Disziplin verbunden, dass er hart und exakt und auf eine Ideologie projiziert werden muss.«
    Um uns herum Autos, wenige, ab und zu; die Leute zu Hause essen zu Mittag, reichen sich das Wasser, das Brot, ernähren sich auf ihre Weise.
    »Auf eine Ideologie«, wiederholt er. Dann setzt er sich auf, macht einen krummen Rücken und greift sich in die Haare. Das tut er lange, er reibt darin herum und zerzaust sie, wühlt im Pechschwarz, findet noch einen Satz.
    »Die Roten Brigaden spüren all das«, sagt er, »sie sind all das. Sie geben dem Immateriellen Materie, der Schale einen Kern und der Trägheit einen Impuls. Sie haben die politische Drüse eines ganzen Landes entfernt und zwingen Italien jetzt, sie wahrzunehmen.«
    Ich sehe seinen seitlich geneigten Kopf, die sinnliche Krümmung der Schultern. Ich spüre, dass er erregt ist. Auch Bocca hat sich aufgesetzt und beobachtet ihn.
    »Und wir«, sagt Scarmiglia, »wir sollen nichts tun?«
     
    Am Samstag, den 6. Mai, wird der Text des Kommuniqués Nr. 9 in den Zeitungen wiedergegeben. Die letzten Zeilen lauten: »Wir schließen also den am 16. März begonnenen Kampf ab, indem wir das Urteil, das über Aldo Moro gefällt worden ist, vollstrecken.«
    Am Morgen sehen wir uns in der Schule, und bevor die Stunde beginnt, sprechen wir darüber. Der eine oder andere Klassenkamerad bleibt stehen, hört einen Augenblick zu, schimpft uns
Schwachköpfe und geht weg. Morana sitzt in seiner Bank, allein, in dem militärgrünen Jeanshemd, das er jeden Tag trägt: Er tut nichts, lernt nicht und schreibt nicht.
    Bocca ist aufgeregt, wiederholt das, was er bei seinem Vater gehört hat. Dass der Sinn des Kommuniqués sei, dass noch Zeit ist, dass noch Zeit sein muss, dass man aber schnell handeln muss.
    »Für mich ist dieses ›indem wir vollstrecken‹ - das Wort eseguendo im Kommuniqué, auf das die Zeitungen sich konzentrieren -, wie jedes Gerundium ein Wort mit Bauch, ein Beutel, der in seinem Inneren Hypothesen und Zweideutigkeiten enthält. Ob die Roten Brigaden gewollt haben, dass man darin Hypothesen sieht, also Möglichkeiten der Rettung - erneutes Blasen, um die Seifenblase in der Luft zu halten - oder Zweideutigkeit - die Blase ist nicht mehr da, oder sie ist transparent, und wir machen glauben, dass sie noch da sei -, lässt sich nicht ergründen.«
    Scarmiglia hört zu, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu nicken. Ich betrachte ihn im Gegenlicht, wie er da auf der Kante der Bank sitzt: heidnisch, in sich versunken und doch stimulierend, der Gründer einer neuen Religion.
    Nach der fünften Stunde machen wir uns zusammen auf den Weg. Scarmiglia bleibt still, Bocca redet, ich antworte. Wir sprechen immer noch über die Kommuniqués, über ihre Sprache. Bocca ist davon begeistert, ihm gefallen die Emphase, die präzisen, scharfen Sätze.
    Ich höre ihm zu, denke darüber nach, stelle fest, dass es, auch wenn ich die Faszination dieser Sprache wahrnehme, darin etwas gibt, das mich peinlich berührt; mich stört der stümperhafte Dogmatismus, die kindliche Emphase. Und doch bin ich der Erste, der emphatisch ist. Ich muss es sein, weil ich, wie die Roten Brigaden, weiß, dass die Emphase die einzige Art ist, um Zugang zur Vision, zur Prophezeiung der Geschichte zu finden. Sicher, man wird lächerlich, aber es gibt keine Alternative: Vor die Wahl zwischen Ironie und Lächerlichkeit gestellt, entscheide ich mich für Lächerlichkeit.

    Während Bocca aufgeregt spricht, weiche ich vom Weg ab, gehe über die Straße zu einem Kiosk und komme mit Zeitungen zurück.
    »Wir müssen sie studieren«, sage ich.
    Bocca strahlt, Scarmiglia stimmt nickend zu.
    »Die reichen nicht«, sagt er. »Wir brauchen viel mehr.«
    Wir beschließen, nach Hause zu gehen und weitere Ausgaben zu holen, alle, die wir aus den letzten anderthalb Monaten finden können, und verabreden uns für den frühen Nachmittag auf der Pornolichtung.
    Die Pornolichtung liegt zwischen der Straße und dem Gitter auf der Rückseite der Kirche Santa Luisa, eine Art Niemandsland, vierzig Quadratmeter voll mit Müll und irgendwelchem Laubwerk, das sich weiter im Inneren verdichtet, bis

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