Die Glasfresser
es zu einer Mauer aus Zweigen und schwarzen Blättern wird. Ein Gewirr, das Bocca mit glücklichem Lächeln in Angriff nimmt, weil die Aussicht besteht, in diesem vegetativen Heiligtum noch mehr Pornoheftchen zu finden. Dort, umgeben von einer Aureole aus zertretenen Stoppeln, gibt es einen kugelförmigen Busch, der einen halben Meter über der Erde wächst. Er besteht aus abweisenden Zweigen und bläulichen Blättern, eine blaue Kugel, die gleichzeitig verbirgt und von etwas kündet. Bocca ist der Einzige, der mutig seinen Arm in den Kopf des Buschs stecken und Sex daraus hervorholen kann.
Diese Streifzüge, das Versenken des Arms und das Versinken in Lust haben einen genau festgelegten rituellen Ablauf: ein- oder zweimal in der Woche, sofort nach der Schule oder am späten Nachmittag, nach den Hausaufgaben, den Winter über und bis Juni; nie allein und immer mit unserem Priester; Bocca steht neben dem Busch, knöpft die Manschette des Hemds auf und zieht sie mit der anderen Hand nach unten, bis sie die Hand halb bedeckt, schiebt mit ein bisschen Mühe den Knopf wieder durchs Knopfloch, und aus der Manschette schaut nur die Spitze der Hand heraus, eine Zange, die genügt, das Heftchen hervorzuholen, ohne sich den Handrücken und die Knöchel zu zerkratzen; an diesem Punkt beugt Bocca sich hinunter und steckt den Arm
hinein. Wir erleben das Verschwinden des Arms und das Erscheinen des Pornohefts, wie man einer Sonnenfinsternis beiwohnt: das zeitweilige Dunkel, die Freude über das Licht. Wenn Bocca sich wieder aufgerichtet hat, klopft er sich würdevoll die Hose ab; er befreit die Hand von der Manschette, zieht beide Ärmel hoch, legt das Heft oben auf den Busch, und in unseren Köpfen beginnt der Sehnerv zu vibrieren wie eine Peitsche.
Das ist die Regel. Doch diesmal wird sie nicht beachtet. Diesmal verwandelt sich die Erregung in Konzentration. In Studium.
Wir gehen in das Gebüsch, die Zeitungen in den Armen. Zunächst nur Bocca und ich, Scarmiglia kommt nach. Wir setzen uns auf die Stoppeln, suchen die Seiten, die uns interessieren. Bekennerschreiben, Erklärungen, verstreute Kommuniqués.
»Ich habe eine Geschichte von 1970 gefunden«, sagt Bocca und kramt in den Zeitungen herum. »Die Roten Brigaden haben den Personalchef einer Fabrik auf Sardinien entführt, ihm ein Schild um den Hals gehängt, ihn auf einen Esel gesetzt und so durchs ganze Dorf geführt.«
Er ist begeistert. Ihm gefällt die Idee des Streichs, die kreative Bestrafung. »So müssen wir es auch machen«, sagt er.
Unterdessen hat er eine Reihe von Seiten herausgenommen, auf denen einige der im Laufe der Zeit von den Roten Brigaden verfassten Kommuniqués abgedruckt sind. Nach der Entführung Moros haben die Zeitungen sie noch einmal veröffentlicht.
»Hast du die Sätze gesehen?«, fragt er mich und streicht mit einem Bleistift die Spalten der Artikel an. Er hat große, kraftlose Hände. Er zeigt auf Fotos, auf Überschriften. Er ist der Forscher, der die Goldader gefunden hat.
»Ja, ich habe sie gesehen.«
»Es ist so, wie Scarmiglia sagt: Jeder Satz ist eine Bombe, etwas, das explodiert.«
»Jeder Satz vereinfacht«, sage ich.
Bocca hält inne, schaut mich an.
»In welchem Sinn?«
»In dem Sinn, dass er vereinfacht. Merkst du das nicht?«
»Warum sagst du das?«
»Weil das Ziel dieser Sätze die Einteilung ist. Wie wenn man die Tafel mit Kreide in zwei Hälften teilt, um die Guten von den Bösen zu trennen.«
Er ist fassungslos, entmutigt, als hätte ich ihm die Kleider vom Leib gerissen und er müsste nun halb nackt vor mir stehen.
»Du bist ungerecht«, sagt er.
»Ich bin nicht ungerecht. Mir gefallen diese Sätze, sie sind schön. Aber wir können nicht so tun, als würden wir nicht begreifen, wozu sie dienen.«
»Wozu dienen sie?«
»Das habe ich dir schon gesagt: zu trennen, die Welt zu ordnen.«
»Würdest du besser schreiben?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Also?«
Ich sage nichts mehr, zu insistieren hätte keinen Sinn. Auch Bocca ist still und liest nervös, für sich allein. Es fehlt ihm die sinnliche Freude, die er zuvor hatte, dieser naive Eifer. Denn letzten Endes hat er recht, auf den ersten Blick ist die Sprache der Roten Brigaden ein Fabeltier. Ein Einhorn. Muskulös, vollblütig, phallisch. Mit einem spiralförmigen Horn auf der Stirn, spitz und unzerstörbar. Eine Sprache, die tobt, die ausreißt und verschlingt, von Wut und Verwandlung erzählt. Die Brigadisten sind immer entflammt, immer
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