Die Glasfresser
der Verweigerung aufgeben und mich entschließen, es zu beenden. Stattdessen stehe ich auf und trete an das abendliche Fenster. Unten ist ein Platz voller Müllsäcke; nachts fangen sie Feuer durch die Zigaretten, die schlaflose Raucher aus den Häusern werfen - die brennende Schlaflosigkeit dieser Jahre. Zwischen den Flammen laufen Ratten herum, wenn die Feuer verlöschen, suchen sie in der kalten Glut nach Nahrungsresten: Manchmal werde ich wach und höre sie nagen und kauen.
Ich setze mich wieder hin. Im Fernsehen erneut der See und die Hubschrauber. Ich senke den Blick auf die Suppe, meinen See heller Asche. Ganz Italien sucht Aldo Moro, und Aldo Moro liegt auf dem Grund meines Tellers, sein kleiner Körper wie eine dunkle Raupe, eine von denen, die ich im Sommer sehe, wie sie sich in Zeitlupe um die feinen grünen Zweige winden, diese schwingenden, verlängerten Sehnen der Büsche rings um das Haus am Meer, ein melancholischer Schmetterling im Larvenstadium, schwarz
und zerzaust - und ich betrachte die Kruste aus Öl und Eigelb, nehme den Löffel und lasse ihn, mit der Mulde nach oben, vom Rand des Tellers nach unten sinken, seine Wölbung streicht über die Oberfläche, sucht ein Hindernis, einen Kontakt, Aldo Moro erstarrt, die Arme eng angewinkelt, den Kopf zwischen den Schultern eingeschlossen, die Knie gegen die Brust gepresst, der ostentativ zur Schau gestellte Abgeordnete, erhoben in seiner Wiege aus Inox-Stahl und dargeboten als Opferspeise, als Hostie, um sie in den Mund zu nehmen und ohne nachzudenken hinunterzuschlucken, ganz Italien und alle Italiener: den Präsidenten der Democrazia Cristiana essen, zur Kommunion gehen, nicht kauen, schlucken, den Geschmack nach Fasten und nach Korn, nach Medizin wahrnehmen und sich dann in die Augen sehen und sie furchtlos strahlend finden, die tiefen, aufrichtigen Blicke der Italiener.
Ich stoße den Stuhl nach hinten, schiebe den Löffel weg, lege ihn nass aufs Tischtuch, nehme den Teller, bringe ihn zum Schmutzbecken. Ich beuge mich darüber und beginne die Stracciatella hineinzugießen. Mit dem gelben Strahl der Suppe versuche ich, den Ausguss zu treffen. Jeden Moment wird der Körper von Aldo Moro ins Loch fallen, zwischen geschlagenem Ei und Fasern vom Kalb, wird in den Abfluss rutschen, ins verzweigte System der Rohre sinken, und noch tiefer, ins steinerne Gedächtnis der Welt, den magmatischen Basalt, der auf dem Grund der Ozeane liegt, den Granit, der Meer und Dampf und Sediment gewesen ist, den Felsen aus Feuer und Himmel, bis hin zu einem Klümpchen aus hartem Glas im Zentrum der Erde.
Ich halte den Teller schräger, Aldo Moro stürzt nicht hinunter. Ich erwarte zu sehen, wie er auf dem Abflusssieb aufschlägt und von dort auf die Keramik prallt, immer noch zusammengekauert, doch er stürzt nicht ab, und da richte ich mich auf, führe den Teller zum Mund, trinke, schlucke die kalte Flüssigkeit und das Weiche und das Harte, die ganze Liste von Konsistenzen.
Ich stelle den leeren Teller auf das Tischtuch. Auf meiner Lippe etwas Hellgelb-Schlabberiges, das an der Luft sofort trocken wird.
Ein Gefühl der Anstrengung. Aldo Moro ist verloren im See, im Teller, in der Kehle. Er ist der Perforator der Welt, der Durchlöcherer. Ich bin das Loch.
Auf der Schwelle der Küche steht die Schnur. Sie dreht den Knopf, schaltet den Fernseher aus. Ich spüre zwei, drei Sätze im Mund, aber ich sage sie nicht: Mein Mund ist darauf konzentriert, einen Geschmack wahrzunehmen, der weiß ist und menschlich und erschütternd.
Über uns, im Dunkel des Käfigs, spricht der Kanarienvogel im Schlaf.
Sich verunstalten
5./6./7./8. Mai 1978
Heute habe ich mit einer Spitze des Stacheldrahts eine Linie von vier Zentimetern in die Bank geritzt. Die Oberfläche aus Formica habe ich - geschützt durch das vor mir aufgeschlagene und hochgehaltene Buch - eingedrückt und in das weiche Holz eine Kerbe geschnitten. Dann habe ich die Vertiefung mit dem Kugelschreiber geschwärzt. Dann habe ich alles angeschaut. Am Ende waren drei Stunden vergangen.
Nach der Pause, als der Unterricht wieder begonnen hatte, ist die Sekretärin des Direktors hereingekommen und hat an alle das Läuseheft verteilt. Wir haben uns gefragt, was für einen Sinn es hat, die Jahreshefte im Mai zu verteilen, wenn man bedenkt, dass es die des Schuljahres 1977/78 sind und das Schuljahr fast zu Ende ist. Man hat uns gesagt, dass es nicht um die Jahreshefte gehe, sondern um die Informationen über Läuse: Es gebe
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