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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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apokalyptisch. Sie schreiben »aktiver Kampf«, sie schreiben »die Strukturen aus den Angeln heben«. Sie sind orakelhaft. Die Wüstenväter haben die Sandweiten Palästinas verlassen und sind in die Stadt gekommen, in die Universitäten und die Fabriken, um zu erzählen, zu bezeugen, zu predigen und zu verdammen.
    Ich fühle mich müde. Ich strecke eine Hand nach dem Zeitungsstapel aus, blättere ein bisschen, lese: »Kein Missverständnis ist mehr möglich, und jeder Versuch der Christdemokraten und ihrer Regierung, das Problem mit zweideutigen Verlautbarungen und schmutzigen Verzögerungsmanövern zu umgehen, wird als
Zeichen ihrer Feigheit und ihrer (nunmehr klaren und endgültigen) Entscheidung interpretiert werden, die Frage der politischen Gefangenen nicht auf die einzig mögliche Art lösen zu wollen.«
    Beim Lesen verliere ich die Konzentration, ich schaffe es weder vor noch zurück, wie wenn ich im Schwimmbad nicht mehr genug Luft habe, es mir im Unterleib und in den Beinen wehtut und ich mitten im Becken aufgeben und toter Mann spielen muss.
    Die Sätze der Roten Brigaden spielen toter Mann. Die Sätze der Roten Brigaden sind toter Mann. Die Sätze der Roten Brigaden erzeugen eine Tote-Mann-Welt und tun dabei so, als hätten sie die Zukunft, das Leben von morgen im Sinn.
    Die Sprache der Roten Brigaden, denke ich, ist ein unbrauchbares Fabeltier, ein erniedrigtes Einhorn, sein Körper ist rachitisch, das Blut schlammig, das Horn auf der Stirn ein künstlicher Phallus. Eine Sprache, in der gegensätzliche Impulse gemeinsam existieren, so wie in mir immer Begeisterung und Enttäuschung - wegen dieser Sprache und wegen allem.
    Ich höre ein Rascheln, das aus dem Gebüsch kommt. Blätter, die zu Boden fallen. Das Geräusch des Lichts, das durch das Laub sickert und zu uns vordringt. Das Rascheln wird lauter. Das Hauchen zertretener Blätter, das Knistern der Zweige. Scarmiglia erscheint. Und er ist nicht Scarmiglia, nicht der alte Scarmiglia. Oder vielleicht ist er erst jetzt Scarmiglia geworden.
    Sein Kopf ist nackt. Kahl geschoren. Auf dem Schädel sind noch die Spuren der Rasur.
    Er sieht uns an, lächelt, setzt sich neben uns.
    Wir sagen nichts.
    Dann fragt Bocca, ob er Läuse hat, Scarmiglia sagt Nein.
    »Ich habe erzählt, in der Schule sei ein Arzt gewesen und habe auf meinem Kopf Läuse und Nissen entdeckt.«
    Das sagt er. Da habe sein Vater Schere und Rasierer genommen und alles abgeschnitten. Heute, nach der Schule, vor einer Stunde.
    Bocca sitzt gebückt da, benommen, zerknitterte Zeitungsseiten in seinem Schoß.

    »Tut es weh?«, fragt er.
    »Was?«
    »Der Kopf.«
    »Wie, der Kopf?«
    »Ob dir die Haare wehtun?«
    »Die Haare sind nicht mehr da.«
    »Ja, eben.«
    Scarmiglia sieht Bocca an, mustert ihn, lässt ihn spüren, dass er dumme Fragen stellt; dann verzeiht er ihm und lächelt ihn an.
    »Wir müssen unkenntlich werden«, sagt er. »Eine gewöhnliche Epidemie nutzen, um unseren Wunsch nach einer absoluten Epidemie zu begünstigen. Und das ist nicht nur unser Wunsch, es ist ein gesellschaftlicher.«
    Er zeigt auf die zwischen den Stoppeln verstreuten Zeitungen. Er presst die Finger zusammen, ganz fest: Die Haut wird weiß, man sieht noch winzige Haarreste daran haften.
    »In diesem Augenblick geht die Ansteckung durch Italien, und Italien will es so, es findet Gefallen daran, kann es aber nicht zugeben. Denn das darf man angesichts von Gewalt und Krise nicht. Das gehört sich nicht.«
    Durch das grüne Geflecht über unseren Köpfen dringen Fetzen von Licht, die sich auf den Stoppeln in tanzende sechseckige Splitter verwandeln; ich strecke den Arm aus, öffne die Hand und fange einen davon auf. Scarmiglia schaut mich an, fährt fort.
    »Aber es ist auch wahr«, sagt er, »dass nichts wahr ist. Italien tut so, als wünschte es sich die Hitze, kann aber nicht auf das Lauwarme verzichten. Seit dem 16. März gibt es vor, mit vierzig Grad Fieber zu leben, nur dass man mit vierzig Grad Fieber nicht lebt. Dieses Glühen ist ein Spiel. Die Erregung der Bürger, der moralische Aufruhr, das sind Fiktionen. Die Entrüstung hat sich sofort institutionalisiert; die Angst hat sich institutionalisiert.«
    Scarmiglia hält inne, erfasst uns beide mit seinem Blick, mustert seine Zweiertruppe.
    »Eine Versuchung jedoch bleibt«, sagt er und lässt die Stimme leiser werden. »Die Lust an der Angst gibt es noch, sie verläuft
untergründig, trotz der Tendenz, eine Gewohnheit daraus zu machen. Wir sind das Land

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