Die Glasfresser
der Desensibilisierung ziviler Instinkte, des Rückbaus jeder Art von Verantwortung. Also greifen wir zu diesen periodischen nationalen Simulationen, um uns einzubilden, anders zu sein. Aber die wirkliche Temperatur Italiens ist dies nicht. Italien ist lauwarm. Die Wirklichkeit ist lauwarm. Also ist Italien wirklich. Und wegen alldem, gegen all dies müssen wir unkenntlich werden. Denn jetzt ist der Anfang, und wir brauchen ein anderes Gesicht.«
Während ich ihm zuhöre, betrachte ich die Lichtfetzen, die auf seinem Schädel herumtanzen.
»Unsere Gesichter sind noch Kindergesichter«, fährt er fort. »Am Kinn wachsen uns keine Haare, nicht einmal ein Flaum, nichts. Mit diesen Gesichtern können wir niemandem Angst einjagen.«
Erneut macht er eine Pause, der Schweiß glänzt auf seinen Jochbögen.
»Deshalb sehe ich so aus«, sagt er. »Um mich zu verunstalten.«
Ich spüre, dass er recht hat. Dass Italien wirklich lauwarm ist, vollkommen unfähig, die Verantwortung für das Tragische auf sich zu nehmen. Italien kann das Tragische nur erzeugen, dann macht es eine Farce daraus. Willkommen also die Ansteckung, denke ich, die Epidemie, ein anderer Gott der Infektionen, der den Dingen Form geben soll, oder nein: der die Dinge deformieren und vermischen soll. Wenn es nicht Tetanus ist, dann sind es eben Läuse, und mit den Läusen kommt der Kampf.
Scarmiglia hat aufgehört zu reden und die Arme verschränkt: Er hat gesprochen und gehandelt, nun sind wir an der Reihe.
Am Nachmittag nehme ich ein bisschen Schinken aus dem Kühlschrank und gehe nach unten vors Haus.
Die Krüppelkatze ist am Ende. Sie kauert am Mäuerchen, zwei dunkle Krusten unter den Augen, ihr Fell stinkt. Ich hocke mich neben sie, unter ihrem Körper liegt trockener Kot. Seit Wochen bin ich nicht hinuntergegangen, die Schnur hat den Katzen immer allein das Essen gebracht. Ich weiß nicht, seit wann es der Katze so geht.
Ich hole den Stacheldraht aus der Tasche und berühre die mageren Vorderpfoten. Hebe eine damit hoch, ziehe den Draht weg, die Pfote fällt hinunter. Den kahlen Bauch bläht ein bisschen Luft auf, ein Hauch, unter dem die Haut sich unregelmäßig wölbt und senkt, ohne Rhythmus. Ich setze einen Stachel auf die Schwellung, doch nichts passiert. Ich drücke, die Krüppelkatze verlagert ein Bein, mehr nicht. Ich presse den Stachel weiter hinein und ziehe ihn zur Seite, die Antwort ist ein stärkeres Schnaufen, ein Heben des Kopfes, ein Blick aus den verkrusteten Augen. Ich bin schon dabei, wieder aufzustehen, drücke dann aber noch einmal den Stachel hinein, bewusst, um zu sehen, um zu wissen, und ich presse so lange, bis auf dem hellen Bauch zwischen den Körnchen abgesprungenen Rosts ein kleiner roter Punkt erscheint, der einen Moment so bleibt, dann schwillt er an, und es beginnt aus ihm zu fließen. Daraufhin stehe ich auf, sehe zuerst den Stacheldraht an, dann die Krüppelkatze, werfe ihr den Schinken hin und gehe weg.
In der Wohnung schalte ich den Fernseher ein, es gibt Buonasera con … Ich wittere Renato Rascel; er riecht süß und abgestanden, nach Talg und nach Fettsäuren, nach Cholesterin.
Während ich schnüffle, sehe ich die Bilder nicht, stehe vor dem Fernseher mit der Nase am Glas, spüre nur die Moleküle, die vom Bildschirm in die Nase und den Kopf gehen. Doch ich höre, und was ich höre, ist die Karikatur unserer Gespräche von heute. Die unerbittlich spießigen Strophen, der Dialog zwischen den Generationen, der sich in Witzchen auflöst, und dann der Refrain. »Mag ja sein, wir sind noch klein, Komma, doch wir wachsen schnell und fein, drum sechs im Sinn und Klammer zu, sagt Sie zu uns und nicht mehr du.« Die plumpe und ehrliche Darstellung unserer Identität. Wir wollen, dass die Welt Sie zu uns sagt, dass sie uns wahrnimmt und uns respektiert, doch wir stecken im Muff der Schule, stinken nach diesem furchtbaren Wasser, das in den Weihwasserbecken der Kirchen vor sich hin fault, nach auswendig gelerntem Einmaleins, nach ein paar Kettenreimen, nach hastigen Kreuzzeichen und hysterischen Heldentaten. Wir sind in der
Stimme von Renato Rascel und saugen uns mit seinem Geruch voll. Wir sind talgig.
Ich schalte den Fernseher aus - der kleine Punkt in der Mitte verglimmt - und gehe ins Bad: Die Schnur und der Stein sind mit dem Lappen in der Pizzeria, ich kann es in Ruhe machen.
Ich lasse das Waschbecken mit Wasser voll laufen, nehme die Nagelschere, fange an zu schneiden, doch es ist unmöglich, sie ist zu
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