Die Glasfresser
klein, also gehe ich in die Küche, hole die große Schere und kehre ins Bad zurück. Jetzt lassen sich die Haare ganz leicht büschelweise herausschneiden und fallen im Wasser langsam auseinander. Jedes Klicken der Schere macht einen Schnappschuss, schnipp - zerschneidet die Dinge, schnapp - zerschneidet das Bild von mir, der ich mich am Abend des 6. Mai verunstalte.
Ich mache vierzig Minuten weiter so, schneide, wo ich hinkomme, zwänge die Finger in die Öffnungen der Schere, wenn ich eine dickere und widerspenstigere Strähne erwische, beuge den Kopf vor und schüttle alles ins Waschbecken. Nach und nach sieht mein Kopf angeknabbert aus, dann zerfleischt, dann ausgeweidet, die Haare verschlungen von einem unsichtbaren Maul.
Ich sehe mich im Spiegel an, ein bebendes Bild. Da sind noch verdrehte und verschnittene Haarbüschel. Also mache ich die Kopfhaut mit Wasser aus dem Hahn nass, nehme die Rasierseife vom Stein - ein Töpfchen mit einer Art Creme darin - und rühre sie mit dem Pinsel an, schäume sie auf und verteile sie auf meinem Kopf, suche den Rasierer im Schränkchen und beginne, ihn darüberzuziehen, zuerst sanft, dann fester. Beim Schneiden gibt es ein leises Knistern, ein Geräusch, das zu der Bewegung gehört, zum Ziehen des Arms und der Hand, zum Widerstand, den die Wurzeln der Rasur entgegensetzen. Als ich fast fertig bin, hebe ich, den Rasierer in der einen und den Pinsel in der anderen Hand, den Blick zum Spiegel: Auf dem Kopf habe ich rosa Krater, die Trümmer einer Bombardierung. Einen Moment lang ist mein Schädel die Welt - helle Zonen und andere, die durch noch nicht ganz abrasierte Härchen dunkler sind: aufgetauchtes Land und Meere, Kontinente, Ozeane.
Ich lasse Rasierer und Pinsel auf dem Rand des Waschbeckens liegen, trockne mir schnell die Hände ab und gehe in mein Zimmer. Von der Konsole nehme ich die illustrierte Bibel und lege sie aufs Bett. Ich knie mich auf den Boden und fange an, schnell darin zu blättern. Ich komme zu den Prophetischen Büchern, wende die Seiten langsamer um und finde die Illustration, die ich suche. Hesekiel im blauen Gewand auf einem Felsen sitzend, das Schwert in einer Hand und um ihn herum, im Staub verstreut, die weißen Flocken seiner Haare und seines Barts. Denn Gott sagt zu Hesekiel, er soll ein scharfes Schwert nehmen und es wie ein Schermesser gebrauchen, dann eine Waage nehmen und die abgeschnittenen Haare wiegen, ein Drittel davon verbrennen, das zweite Drittel noch einmal zerschneiden, das, was übrig bleibt, in den Wind streuen. Gott verlangt von Hesekiel den Schädel, er soll seinen Schädel vor ihm enthüllen, ihm seinen Schädel darbringen, indem er ihn entblößt. Und ihm durch ein rituelles Opfer alles übergeben, was Maskierung und Blendwerk ist.
Ich habe keinen Gott und keine Rituale, also tue ich nichts. Die abgeschnittenen Haare, die in diesem Moment das Waschbecken verstopfen, werde ich aufsammeln und in die Toilette werfen, nach und nach, zwischen einer Ladung und der nächsten die Spülung ziehen. Dann werde ich das Waschbecken mit einem nassen Tuch säubern und mir die Hände waschen, und dann noch mal und noch mal, bis alles weg ist. Gleich darauf werde ich meinen neuen Kopf auf das Kissen legen, werde spüren, wie die Kühle des Bezugs vom Stoff in die Knochen steigt, werde versuchen zu schlafen - doch da ist Lärm am Eingang, da sind Schritte im Flur und der Blick des Lappens, der mich anstarrt und dem die Tränen kommen, dann der Stein, der in Zeitlupe die Schlüssel auf den Schreibtisch legt und weitere Bewegungen mit einer bedrohlichen Langsamkeit ausführt, und die Schnur, die sich mir nähert und mir die Finger auf die Kopfhaut legt, mich nach allen Seiten dreht und wendet und mit den Fingerspitzen über den Kopf streicht, und ich spüre die Reibung und die Streifen der Wärme, und sie versetzt mir Schläge auf den
Kopf, aber nicht fest, als wollte sie hören, wie es klingt, wie bei einem Kind kurz nach der Geburt, und sagt zu mir: »Du bist verrückt, du bist verrückt.«
Am 7. Mai erkläre ich alles. Ich benutze Scarmiglias Version, leicht verändert in einigen Punkten. Der Stein gibt mir sein Acqua Velva, um die Haut zart zu halten. Es ist grün, und man duftet gut. Die Schnur sucht am Morgen nach einer geöffneten Apotheke, kauft Pulver gegen Ungeziefer und bestreut mich damit. Der Lappen hat keine Angst mehr und schaut fern.
Am frühen Nachmittag treffe ich mich mit Scarmiglia und Bocca - der gerührt ist, als er
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