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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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namenlos. In gewisser Hinsicht noch individuell, doch nicht individualisierbar.
    »Wie wir«, sagt Scarmiglia und legt das Buch auf den Tisch. »Wir haben keine Papiere«, fügt er hinzu. »Es ist, als würden wir nicht existieren. Wir sind wie die Termiten, wie die Bienen. Anonyme Zellen.«
    Bocca nickt, und ich spreche weiter.
    »Aber es ist nicht nur das. Die Bienen senden im Flug Codes aus und dechiffrieren sie. Wir beobachten sie und verstehen nichts, sehen nur kleine gelbe Punkte, die sich unruhig bewegen; doch wenn es uns gelingen würde, die unsichtbaren Linien, die sie zeichnen, zu lesen, wüssten wir, was sie sich sagen.«
    »Wie in der Rätselwoche?«, fragt Bocca.
    »Etwas mehr«, sagt Scarmiglia, ohne ihn anzusehen.
    Beim Nachbarhaus hat irgendjemand einen Plattenspieler in den Garten getragen, um Schlager zu hören. Die aktuellen, mit ihrem effeminierten Gesinge, ihrem Stöhnen, Röcheln und Seufzen, ihrem obszönen Winseln. Wir sind still: zwischen dem Ja und dem Nein, dem Noch und dem Immer, zwischen Sprüchen, Schmachten und Melodramen, die sich mit dem Sprudeln der Getränke vermischen, dem Zerfall der Kohlensäure in den Gläsern.
    Dann nehme ich das Heft, zeige die Zeichnungen und erkläre sie.

    Auf eine Seite habe ich einen menschlichen Körper gezeichnet. Man sieht ihn von hinten, seine Arme sind ausgebreitet, der Rücken gebeugt in der Pose des Raubfalken.
    »Das ist die Stellung Yuppi Du« , sage ich. »Sie bedeutet ›drohende Gefahr‹.«
    Bocca macht ein komisches Gesicht, und ich erkläre.
    »Es geht darum, unsere Körper in Ideogramme zu verwandeln. Stellungen einzunehmen und ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben. Auf diese Weise schaffen wir ein Alphabet und eine Grammatik. Wir können darauf verzichten, Wörter auszusprechen, weil wir sie mit Stellungen ausdrücken. Und wir bilden Sätze, indem wir die Stellungen miteinander verbinden.«

    Bocca scheint verstanden zu haben, er möchte mich anfassen, doch er bewegt sich nicht, sagt nur: »Ja, das müssen wir machen.«
    Eine Eidechse läuft über den Weg, über die ausgebleichten Pflastersteine, Scarmiglia betrachtet sie, und ich spüre, dass er sie mit den Augen verschlingt. Dann wendet er sich mir zu und sagt: »In Ordnung.«
    Ich hebe eine der Tüten, die Bocca mitgebracht hat, vom Boden hoch, ziehe Platten und Zeitschriften heraus und verteile sie auf dem Tisch.
    »Die Stellungen holen wir uns hier«, sage ich. »Von den Sängern. Aus der Werbung. Auch von Schauspielern. Aus dem Fernsehen und aus dem Kino. Und wir tun es aus Rache: Denn indem wir uns Celentano aneignen, der in Yuppi Du den Falken macht, verwandeln wir den Schwachsinn in etwas Nützliches.«
    »Erklär mir das genauer«, sagt Bocca. »Wir nehmen eine bekannte Form, lassen sie äußerlich, wie sie ist, aber verändern ihren Inhalt. Richtig?«
    »Genau«, bestätige ich. »Wir nehmen idiotische Stellungen, die jeder kennt, und machen daraus codierte Botschaften.«
    Scarmiglia, der bisher geschwiegen hat, vollführt eine gewichtige Handbewegung, die ich nicht ganz dechiffrieren kann, doch ich weiß, es ist seine Art, sich der Dinge zu bemächtigen.

    »Jede Woche erneuert sich alles«, sagt er. »Neue Platten, jede mit ihrem Cover, neue Filme, neue Figuren im Fernsehen. Am Kiosk erscheinen die neuen Nummern der Illustrierten. Die Gesamtheit dieser Neuheiten erzeugt eine gemeinsame Vorstellungswelt, die Italien braucht, um zusammenzuhalten. Denn in Wirklichkeit zerfällt alles. Jede Person, die auf einer Titelseite oder der Leinwand oder dem Bildschirm landet, wird ein Zentrum, etwas, das Stabilität geben soll. Und so sammeln sich Körper und Stellungen an. Doch das Zentrum ist instabil, es hält eine Woche, und dann geht es weiter in einem Zyklus falscher Revolutionen, die nur dazu dienen, dass die Zeit sich stets gleich bleibt.«
    Scarmiglia bricht plötzlich ab, starrt den Lappen an, der die blauen Memory-Karten hochhebt und die Zwillingsstücke sucht. Ich gebe ihm ein Zeichen, sich nicht darum zu kümmern. Daraufhin steht er auf, nimmt seine Platten vom Boden, legt sie auf den Tisch und zieht Oh! Carmela von Donatella Rettore heraus. Er bittet mich um einen Stift, ich gebe ihm einen, er macht ein todernstes Gesicht, klemmt seinen rechten Arm rechtwinklig vor seine Brust, presst die Faust um den Stift, der sein Gesicht in zwei Hälften teilt.
    »Das ist die Stellung Rettore«, sagt er. »Sie bedeutet, dass man an einem Scheideweg steht, sei es physisch oder psychisch. Es

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