Die Glasfresser
es ist wenig Zeit. Oder besser: Wir haben beschlossen, diese Zeit als etwas zu betrachten, das bald zu Ende geht.«
»Stimmt, 1978 geht dem Ende zu. Aber die Zeit endet nicht.«
»Das hat keine Bedeutung«, sage ich. »Wir reden über die letzten Dinge. Über das Ultimative.«
»Über die Ultima Ratio«, fügt sie hinzu, und ihr Ton ist jetzt frivol.
»Wir denken, dass es auf das Ende zugeht.«
»Denkt Scarmiglia das auch?«
»Noch mehr als ich.«
»Bocca auch?«
Ich nicke.
»Und bei keinem von euch regt sich ein Zweifel, ob es nicht eine lächerliche Angst ist?«
»Irgendjemand muss die Verantwortung für das Lächerliche übernehmen. Dafür, lächerliche Dinge zu denken. Sie zu sagen und dann zu tun. Sonst geschieht nichts.«
Ich mache eine Pause, hole Luft.
»Das Lächerliche ist der Preis, den man für das Tragische zahlen muss«, sage ich.
»Das ist eine politische Einstellung«, antwortet sie.
»Eine Verantwortung«, sage ich.
Crematogastra starrt ein paar Sekunden lang auf den Boden; dann sagt sie noch etwas.
»Glaubst du das wirklich?«
»Ich muss.«
»Das ist Aberglaube.«
»Er ist notwendig.«
»Trotzdem ist es Aberglaube.«
»Was der Stein uns aus der Bibel vorliest, ist auch Aberglaube. Ich höre zu und glaube nicht daran, doch es gefällt mir, dass die Bibel der Welt eine Form geben kann: Dort drinnen ist die Welt eine ernste Sache.«
»Gewiss, die Struktur trägt«, sagt sie.
»Sie ist eine Maschine, die Sinn erzeugt«, stelle ich klar. »Am Anfang gibt es Unordnung, Krankheit und Irrtum; am Ende den Kosmos, Erlösung und Gerechtigkeit.«
Aus dem Flur dringt ein Klingeln herüber. Crematogastra schnaubt, steht auf, streicht ihren hellblauen Rock glatt und bewegt sich auf die Tür zu; auf der Schwelle dreht sie sich noch einmal um. Es scheint so, als wolle sie etwas sagen, doch sie sagt nichts, fixiert mich, weiter nichts; nun ja, eigentlich mustert sie mich. Dann trottet sie in den Flur.
Am Nachmittag kommt meine lockenköpfige Cousine vorbei und holt mich mit dem Mofa ab. Sie lässt mich hinten aufsitzen, und wir fahren zu ihrem Filmfreund nach Hause, aber diesmal in der Stadt. Er hat neue Filme bekommen und wieder mit einer Reihe von Vorführungen begonnen. Der Ablauf ist wie im Sommer, nur mit ein paar Jacken mehr und ein paar Espadrilles weniger. Da meine Haare nachgewachsen sind, bietet der Freund mir weder den Wohnzimmersessel noch die Couch an und gibt mir ein Zeichen, mich auf den Teppich zu setzen. Alle um mich herum sind älter, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig. Sie sagen dummes Zeug zu mir, und wenn ich, auf die immer gleiche Frage, antworte: sechste, bald siebte Klasse, klopfen sie sich auf die Schulter und auf die Brust und fragen sich gegenseitig: Weißt du noch?, und dann ignorieren sie mich.
Nach dieser und anderen Höflichkeiten teilt der Gastgeber - wie beim letzten Mal mit Halstuch und wie beim letzten Mal mit heiserer Stimme - uns mit, dass wir heute einen Film von Cassavetes sehen, wobei er, nach irgendeiner idiotischen Vorstellung von der korrekten Aussprache dieses Namens, aus dem doppelten S ein Z macht. Er erklärt, dass Cassavetes, obwohl Amerikaner, ein unabhängiger Filmemacher und Genosse sei. Dann, immer noch verlegen, sagt er: »Gut, gut, der Film heißt Eine Frau unter Einfluss«, und setzt sich hinter den Projektor.
In der Geschichte geht es um ein Ehepaar. Die beiden sind im Schlafzimmer und können nicht einschlafen. Er ist Arbeiter, hat die ganze Nacht lang gearbeitet; sie ist sonderbar, hat die ganze Nacht lang gepfiffen. Über dem Bett gibt es ein großes Fenster mit Rollläden, nur durch die Schlitze fällt Licht ein.
Ich sitze auf dem rauen Teppich, mit dem Rücken gegen die Couch gelehnt, sehe mir an, wie die Frau aufsteht, sie ist komisch und nervös, und ins Bad geht, an der Tür hängt ein Schild: PRIVAT. Der Mann versucht weiterzuschlafen, bis die Kinder aufs Bett springen, weil sie ihm vorführen wollen, dass sie gelernt haben, wie man pfeift; doch es ist weniger ein Pfeifen, was sie zustande bringen, als ein irgendwie tonloses, eifriges Blasen, ein gemeinsames Pusten in die Mitte des Bettes. An diesem Punkt gibt der Mann es auf zu schlafen, versammelt alle auf dem Bett und will, dass sie Jingle Bells pfeifen.
Die Filmrolle ist abgelaufen, es gibt eine Pause, um die neue einzulegen. Bier wird herumgereicht, ich bekomme einen Plastikbecher mit Wasser. Ich trinke, beiße ins Plastik, sehe mir den Abdruck an: Ich bin wie eine
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