Die Glasglocke (German Edition)
ich die Hühnchenscheiben eine nach der anderen in die Finger, rollte sie zusammen, damit der Kaviar nicht herausfiel, und aß sie.
Nach vielen ängstlichen Mutmaßungen hinsichtlich der richtigen Benutzung des Bestecks hatte ich festgestellt, wenn man bei Tisch etwas Unkorrektes mit einer gewissen Arroganz tut, so als wüßte man genau, daß es richtig ist, dann kommt man damit durch, und niemand hält einen für unmanierlich oder schlecht erzogen. Alle halten einen für originell und flott.
Ich lernte diesen Trick an dem Tag, an dem mich Jay Cee zum Lunch mit einem berühmten Dichter einlud. Er trug eine scheußliche, ausgebeulte, braun gesprenkelte Tweedjacke, eine graue Hose und einen rotblau karierten Pullover mit V-Ausschnitt ohne Krawatte in einem sehr vornehmen Restaurant voller Springbrunnen und Kronleuchter, wo alle anderen Männer dunkle Anzüge und makellos weiße Hemden trugen.
Der Dichter aß seinen Salat Blatt für Blatt mit den Fingern, und hielt mir dabei einen Vortrag über die Antithese von Natur und Kunst. Wie gebannt starrte ich auf die fahlen, weißen Wurstfinger, die mit einem tropfenden Blatt nach dem anderen zwischen dem Salatteller des Dichters und dem Mund des Dichters unterwegs waren. Niemand kicherte oder machte irgendwelche spitzen Bemerkungen. Der Dichter erweckte den Eindruck, als sei es das einzig Natürliche und Sinnvolle, Salat mit den Fingern zu essen.
Niemand aus unserer Redaktion oder der Belegschaft von Ladies' Day saß in meiner Nähe, und Betsy schien gutwillig, anscheinend mochte sie keinen Kaviar, und so wurde ich immerdreister. Als ich den ersten Teller mit kaltem Huhn und Kaviar verputzt hatte, legte ich mir einen zweiten zurecht. Dann machte ich mich über die Avocado mit dem Krabbenfleischsalat her.
Avocados sind meine Lieblingsfrüchte. Mein Großvater brachte mir jeden Sonntag eine Avocado mit, versteckt in der Tiefe seiner Aktentasche, unter sechs schmutzigen Hemden und den Sonntagscomics. Er brachte mir bei, wie man Avocados ißt, indem man Traubengelee und French Dressing in einer Pfanne verrührt und die granatrote Soße in die Höhlung der Avocadobirne füllt. Ich hatte Sehnsucht nach dieser Soße. Verglichen mit ihr, schmeckte das Krabbenfleisch fad.
»Wie war die Pelzschau?« fragte ich Betsy, nachdem ich mir wegen möglicher Mitbewerber um den Kaviar keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Ich kratzte gerade die letzten salzigen schwarzen Eier mit meinem Suppenlöffel vom Teller und leckte ihn sauber.
»Es war herrlich«, lächelte Betsy. »Sie haben uns gezeigt, wie man eine Stola für alle Gelegenheiten aus Minkschwänzen und einem Goldkettchen, das man bei Woolworth für einen Dollar achtundneunzig bekommt, herstellt, und Hilda ist nachher gleich zu den Pelzgroßhandlungen geflitzt, hat sich zu einem Riesenrabatt ein Bündel Minkschwänze gekauft, ist noch kurz bei Woolworth vorbeigegangen und hat das ganze dann im Bus hierher zusammengenäht.«
Ich schielte zu Hilda hinüber, die auf der anderen Seite neben Betsy saß. Tatsächlich, sie trug eine teuer aussehende Stola aus pelzigen Schwänzen, die auf einer Seite mit einem baumelnden Goldkettchen zusammengehalten wurde.
Aus Hilda war ich nie so recht schlau geworden. Sie war einsachtzig groß, hatte große, schrägstehende grüne Augen, breite rote Lippen und einen geistesabwesenden, slawischen Blick. Sie machte Hüte. Sie war der Moderedaktion zugeteilt und insofern getrennt von denen, die sich wie Doreen, Betsy und ich eher literarisch betätigten und Artikel schrieben, wenn auchmanchmal nur über Gesundheit oder Kosmetik. Ich weiß nicht, ob Hilda lesen konnte, aber ihre Hüte waren hinreißend. Sie besuchte eine spezielle Hutmacherschule in New York und kam jeden Tag mit einem neuen Hut zur Arbeit, den sie eigenhändig aus Stroh oder Pelz oder Bändern oder Schleierstoff in raffinierten, ungewöhnlichen Farben hergestellt hatte.
»Das ist ja toll«, sagte ich. »Toll.« Doreen fehlte mir. Sie hätte mich mit einer giftigen Bemerkung über Hildas wundervolles Pelzstück aufgemuntert.
Ich war niedergeschlagen. An diesem Vormittag hatte Jay Cee selbst mir die Maske vom Gesicht gerissen, und nun hatte ich das Gefühl, alle Befürchtungen, die ich selbst schon gehegt hatte, hätten sich bestätigt und ich könnte die Wahrheit nicht länger verheimlichen. Neunzehn Jahre lang war ich guten Noten, Preisen, Stipendien nachgejagt, doch jetzt ließ ich die Dinge schleifen, wurde langsamer, blieb hinter
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