Die Glasglocke (German Edition)
sprang in meinen Kopf, und durch die dicke, warme, pelzige Dunkelheit rief eine Stimme:
»Mutter!«
Luft regte sich und strich über mein Gesicht.
Ich spürte die Form des Zimmers um mich, es war ein großes Zimmer mit offenen Fenstern. Ein Kopfkissen bildete unter meinem Kopf eine Mulde, und mein Körper schwebte gewichtlos zwischen dünnen Laken.
Dann spürte ich Wärme, wie eine Hand auf meinem Gesicht. Ich mußte in der Sonne liegen. Wenn ich die Augen öffnete,würde ich Farben und Formen sehen, die sich wie Krankenschwestern über mich beugten.
Ich öffnete die Augen.
Es war vollkommen dunkel.
Jemand seufzte neben mir.
»Ich kann nichts sehen«, sagte ich.
Eine fröhliche Stimme sprach aus der Dunkelheit. »Es gibt so viele Blinde auf der Welt. Eines Tages werden Sie einen netten blinden Mann heiraten.«
Der Mann mit dem Meißel war zurückgekommen.
»Wozu machen Sie sich die Mühe?« sagte ich. »Es ist zwecklos.«
»So dürfen Sie nicht reden.« Seine Finger betasteten die große, schmerzende Beule über meinem linken Auge. Dann lockerte er etwas, und ein Lichtschlitz mit einer gezackten Kante erschien, wie ein Loch in einer Mauer. Der Kopf eines Mannes spähte um die Kante.
»Können Sie mich sehen?«
»Ja.«
»Können Sie noch etwas anderes sehen?«
Dann besann ich mich. »Ich kann überhaupt nichts sehen.«
Der Schlitz verengte sich, wurde dunkel. »Ich bin blind.«
»Unsinn! Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Die Schwester.«
Der Mann schnaubte. Er verklebte den Verband über meinem Auge wieder. »Sie haben großes Glück gehabt. Ihr Sehvermögen ist völlig in Ordnung.«
»Da ist jemand für Sie.«
Die Schwester strahlte und verschwand.
Lächelnd kam meine Mutter um das Fußende des Bettes. Sie trug ein Kleid mit dunkelroten Wagenrädern darauf, und sie sah schrecklich aus.
Ein großer, breitschultriger Junge folgte ihr. Zuerst konnte ich nicht erkennen, wer es war, weil sich mein Auge nur einen Spaltweit öffnete, aber dann sah ich, es war mein Bruder.
»Sie haben gesagt, du wolltest mich sehen.«
Meine Mutter ließ sich auf der Bettkante nieder und legte eine Hand auf mein Bein. Sie machte ein liebevoll vorwurfsvolles Gesicht, und ich wollte, daß sie wegging.
»Ich glaube nicht, daß ich irgend etwas gesagt habe.«
»Sie haben gesagt, du hättest nach mir gerufen.« Meine Mutter schien den Tränen nahe. Ihr Gesicht bebte wie bleicher Aspik.
»Wie geht es dir?« fragte mein Bruder.
Ich sah meiner Mutter in die Augen.
»Genau so«, sagte ich.
»Besuch für Sie.«
»Ich will keinen Besuch.«
Die Schwester huschte hinaus und flüsterte auf dem Flur mit jemandem. Dann kam sie zurück. »Er würde Sie aber sehr gern sehen.«
Ich warf einen Blick auf meine gelben Beine, die aus dem ungewohnten weißen Seidenpyjama hervorsahen, den sie mir angezogen hatten. Die Haut schlotterte, wenn ich mich bewegte, als waren keine Muskeln darunter, und sie war mit dicken schwarzen Haarstoppeln bedeckt.
»Wer ist es?«
»Jemand, den Sie kennen.«
»Wie heißt er?«
»George Bakewell.«
»Ich kenne keinen George Bakewell.«
»Er sagt, er kennt Sie.«
Die Schwester ging hinaus, und herein kam ein sehr vertraut wirkender Junge und sagte: »Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir aufs Bett setze?«
Er trug einen weißen Kittel, und ich sah, daß aus seiner Tasche ein Stethoskop hing. Ich dachte, es müsse ein Bekannter sein, der sich als Arzt verkleidet hatte.
Eigentlich hatte ich meine Beine zudecken wollen, wenn jemand hereinkam, aber jetzt war es zu spät, also ließ ich sie heraussehen, so wie sie waren, abstoßend und häßlich.
»Das bin ich«, dachte ich. »So bin ich.«
»Du erinnerst dich doch an mich, nicht wahr, Esther?«
Ich blinzelte den Jungen durch den Spalt meines guten Auges an. Das andere hatte sich noch nicht geöffnet, aber der Doktor sagte, in ein paar Tagen würde es wieder in Ordnung sein.
Der Junge sah mich an, als wäre ich ein faszinierendes neues Zootier und als würde er im nächsten Moment in Lachen ausbrechen.
»Du erinnerst dich doch an mich, nicht wahr, Esther?« Er sprach langsam, wie zu einem begriffsstutzigen Kind. »Ich bin George Bakewell. Ich gehe in die gleiche Kirche wie du. In Amherst hattest du mal ein date mit meinem Zimmergenossen.«
Da glaubte ich zu wissen, wohin das Gesicht dieses Jungen gehörte. Verschwommen hing es am Rand meines Gedächtnisses – ein Gesicht, das ich niemals mit einem Namen zusammenbringen würde.
»Was tust du
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