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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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Grab von nun an zu pflegen. Ich war immer das Lieblingskind meines Vaters gewesen, und es schien mir angemessen, daß ich das Trauern übernahm, mit dem sich meine Mutter nie abgegeben hatte.
    Ich dachte, wenn mein Vater nicht gestorben wäre, hätte er mir alles über Insekten beigebracht, die an der Universität sein Spezialgebiet gewesen waren. Er hätte mir Deutsch und Griechisch und Latein beigebracht, lauter Sprachen, die er konnte, und vielleicht wäre ich lutherisch geworden. In Wisconsin war mein Vater Lutheraner gewesen, aber in Neuengland waren die Lutheraner aus der Mode, deshalb war er ein abgefallener Lutheranergeworden und nachher, wie meine Mutter sagte, ein erbitterter Atheist.
    Der Friedhof enttäuschte mich. Er lag am Stadtrand, in einer Senke, die wie eine Müllkippe aussah, und während ich die Kieswege entlangschlenderte, konnte ich die abgestandenen Salzsümpfe in der Ferne riechen.
    Der alte Teil des Friedhofs mit seinen verwitterten, flachen Steinen und den mit Flechten bedeckten Grabsteinen war in Ordnung, aber bald erkannte ich, daß mein Vater in dem modernen Teil mit Daten aus den vierziger Jahren beerdigt sein mußte.
    Die Steine in diesem modernen Teil waren roh und billig, hier und da hatte man ein Grab mit Marmor eingefaßt, wie eine längliche Badewanne voller Dreck, und rostige Metallbehälter mit Plastikblumen steckten ungefähr da, wo der Nabel des Betreffenden sein mußte.
    Leichter Nieselregen sank aus dem grauen Himmel, und ich war plötzlich sehr niedergeschlagen.
    Ich konnte meinen Vater nirgendwo finden.
    Dort wo das Meer lag, hinter den Sümpfen und den Buden am Strand, jagten niedrige, zerzauste Wolken über den Horizont, und Regentropfen machten den schwarzen Mantel, den ich heute morgen gekauft hatte, noch dunkler. Eine klebrig kalte Feuchtigkeit drang mir bis auf die Haut.
    Ich hatte die Verkäuferin gefragt: »Ist er wasserdicht?«
    Und sie hatte gesagt: »Kein Regenmantel ist wasser dicht. Er ist wasserabstoßend.«
    Als ich dann gefragt hatte, was wasserabstoßend bedeutete, hatte sie gemeint, ich solle mir lieber einen Schirm kaufen.
    Aber ich hatte nicht genug Geld für einen Schirm. Wegen der Busfahrten innerhalb und außerhalb von Boston, wegen der Erdnüsse, der Zeitungen, der Bücher über Psychopathologie und der Ausflüge zu meiner alten Heimatstadt am Meer waren meine New Yorker Ersparnisse fast aufgebraucht.
    Ich hatte beschlossen, wenn kein Geld mehr auf meinem Konto wäre, würde ich es tun, und an diesem Morgen hatte ich das letzte Geld für den schwarzen Regenmantel ausgegeben.
    Dann sah ich den Grabstein meines Vaters.
    Ein anderer Grabstein stand direkt neben ihm, Kopf an Kopf, wie die Leute im Obdachlosenheim zusammengedrängt werden, wenn nicht genug Platz da ist. Der Stein war aus gesprenkeltem rosa Marmor, wie Dosenlachs, es stand nur der Name meines Vaters darauf und darunter zwei Datumsangaben, getrennt durch einen kleinen Strich.
    Vor dem Stein legte ich den Armvoll regennasser Azaleen zurecht, die ich von einem Busch am Eingang des Friedhofs gepflückt hatte. Dann klappten meine Beine unter mir weg, und ich setzte mich in das triefende Gras. Ich wußte nicht, warum ich so heftig weinte.
    Dann fiel mir ein, daß ich um meinen toten Vater noch nie geweint hatte.
    Auch meine Mutter hatte nicht geweint. Sie hatte nur gelächelt und gesagt, daß der Tod ihm gnädig gewesen sei, denn hätte er weitergelebt, dann wäre er sein Leben lang ein Krüppel und Invalide geblieben und wäre lieber gestorben, als das zu ertragen.
    Ich legte mein Gesicht an den glatten Marmor und jaulte meinen Verlust in den kalten Salzregen.
    Ich wußte genau, wie ich es machen würde.
    In dem Augenblick, als die Autoreifen auf der Zufahrt davonknirschten und das Motorgeräusch leiser wurde, sprang ich aus dem Bett und zog rasch meine weiße Bluse, den grünen, gemusterten Rock und den schwarzen Regenmantel an. Der Regenmantel war noch klamm vom Vortag, aber darauf würde es bald nicht mehr ankommen.
    Ich ging nach unten, nahm einen blaßblauen Umschlag vom Eßtisch und schrieb in großen, sorgfältigen Buchstaben auf die Rückseite: Ich mache einen langen Spaziergang.
    Ich stellte die Nachricht so auf, daß meine Mutter sie sofort sehen würde, wenn sie hereinkam.
    Dann lachte ich.
    Das Wichtigste hatte ich vergessen.
    Ich lief nach oben und trug einen Stuhl in den begehbaren Wandschrank meiner Mutter. Ich stieg hinauf und griff nach der kleinen grünen Stahlkassette auf dem

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