Die Glasglocke (German Edition)
hier?«
»Ich bin an diesem Krankenhaus Assistent.«
Wie konnte dieser George Bakewell so plötzlich Arzt geworden sein? fragte ich mich. Außerdem kannte er mich gar nicht wirklich. Er wollte bloß wissen, wie ein Mädchen aussah, das so verrückt war, sich umzubringen.
Ich drehte mein Gesicht zur Wand.
»Verschwinde!« sagte ich. »Verschwinde, und laß dich, verdammt noch mal, nicht wieder blicken.«
»Ich will einen Spiegel.«
Die Schwester summte geschäftig vor sich hin, während sie eine Schubalde nach der anderen öffnete und die neue Unterwäsche, die neuen Blusen und Röcke und Pyjamas, die mir meine Mutter gekauft hatte, in den Handkoffer aus schwarzem Lackleder packte.
»Warum bekomme ich keinen Spiegel?«
Ich trug ein enges Kleid, grau-weiß gestreift wie Matratzenstoff, mit einem breiten, glänzend roten Gürtel, und sie hatten mich aufrecht in einen Sessel gesetzt.
»Warum nicht?«
»Weil es besser für Sie ist.« Die Schwester ließ die Verschlüsse des Handkoffers zuschnappen.
»Warum?«
»Weil Sie nicht besonders hübsch aussehen.«
»Oh, das möchte ich sehen.«
Die Schwester seufzte und öffnete die oberste Kommodenschublade. Sie nahm einen großen Spiegel in einem Holzrahmen, der zum Holz der Kommode paßte, heraus und reichte ihn mir.
Zuerst sah ich nicht, wo das Problem lag. Es war überhaupt kein Spiegel, sondern ein Bild.
Es war nicht zu erkennen, ob die Person auf dem Bild ein Mann oder eine Frau war, denn das Haar war abrasiert und sproß nun wieder in stoppeligen Büscheln wie Hühnerfedern auf dem ganzen Kopf. Auf der einen Seite war das Gesicht der Person dunkelrot und formlos verquollen, ging an den Kanten ins Grünliche und dann in ein blasses Gelb über. Der Mund der Person war fahlbraun, mit rosafarbenen wunden Stellen in beiden Winkeln.
Das Faszinierendste an diesem Gesicht war diese phantastische Ansammlung leuchtender Farben.
Ich lächelte.
Der Mund im Spiegel verkantete sich zu einem Grinsen.
Gleich nach dem Krach stürzte eine zweite Schwester herein. Sie sah den zerbrochenen Spiegel, sah mich, wie ich über den blinden weißen Scherben stand, und zog dann die junge Schwester rasch aus dem Zimmer.
» Habe ich es dir nicht gesagt«, konnte ich sie schimpfen hören.
»Aber ich wollte doch nur …«
» Habe ich es dir nicht gesagt!«
Ich lauschte mit mäßigem Interesse. Schließlich konnte jeder einen Spiegel fallen lassen. Ich verstand nicht, warum sich die beiden so aufregten.
Die zweite Schwester, die ältere von beiden, kam ins Zimmer zurück. Mit verschränkten Armen stand sie da und starrte mich böse an.
»Sieben Jahre Unglück.«
»Was?«
»Ich habe gesagt«, die Schwester hob die Stimme, als spräche sie mit einem Schwerhörigen, » sieben Jahre Unglück .«
Die junge Schwester kam mit Kehrblech und Handfeger zurück und begann, die glitzernden Splitter zusammenzufegen.
»Das ist doch nur Aberglaube«, sagte ich.
»Ha!« Die zweite Schwester wendete sich an die, die auf Händen und Knien auf dem Boden herumkroch, und sagte, als wäre ich nicht da: »In Duweißtjawo werden sie sich schon um sie kümmern!«
Aus dem Heckfenster des Krankenwagens sah ich die vertrauten Straßen eine nach der anderen in der sommerlich grünen Ferne wie in einem Trichter verschwinden. Auf der einen Seite neben mir saß meine Mutter, auf der anderen mein Bruder.
Ich hatte so getan, als wüßte ich nicht, warum ich von dem Krankenhaus in meinem Heimatort in ein Krankenhaus in der Großstadt gebracht wurde, ich wollte hören, was sie sagten.
»Sie wollen, daß du auf eine besondere Station kommst«, sagtemeine Mutter. »So eine Station gibt es in unserem Krankenhaus nicht.«
»Mir hat es dort gefallen.«
Der Mund meiner Mutter spannte sich. »Dann hättest du dich besser benehmen sollen.«
»Wie bitte?«
»Du hättest diesen Spiegel nicht kaputtmachen sollen. Dann hätten sie dich vielleicht dabehalten.«
Aber ich wußte natürlich, daß es mit dem Spiegel nichts zu tun hatte.
Ich saß im Bett und hatte mir die Decken bis unter das Kinn gezogen.
»Warum kann ich nicht aufstehen. Ich bin nicht krank.«
»Visite«, sagte die Schwester. »Nach der Visite können Sie aufstehen.« Sie schob die Bettvorhänge zurück und enthüllte eine junge dicke Italienerin im Bett nebenan.
Über der Stirn der Italienerin türmten sich dichte schwarze Locken und fielen ihr dann in Kaskaden über den Rücken. Jedesmal wenn sie sich bewegte, bewegte sich dieser gewaltige
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