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Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Titel: Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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die Hand nach der Maske aus, berührte sie … Sie schrie. Dunkelheit.
    Helligkeit, Vogelgezwitscher. Das Erste, was Antonia nach dem Erwachen sah, war das helle Blau jenseits des Fensters. In der Hütte, in der sie die Nacht verbracht hatte, sah man den Morgen viel deutlicher und imposanter als vom Atelier aus oder in den Stadtwohnungen, in denen sie bisher gelebt hatte. Ein paar Wolken über den Gipfeln fingen die kühle Morgensonne auf, und von überallher wehte Laub heran, so als käme es von den Bergen herunter, oder vom Himmel, aber natürlich hatte es sich von den Wäldern an den Hängen gelöst.
    Dieser Anblick war Balsam gegen den beunruhigenden Traum, dem sie ausgesetzt gewesen war. Das Ereignis des Bildersturms in Ulm drängte sich regelmäßig in ihre Nächte, in immer neuen Varianten. Mal sah sie die zersplitternden Figuren, mal die stürzenden Statuen, mal die Täter, manchmal Schreie und manchmal Poltern und Splittern, und manchmal alles zusammen. Vergangene Nacht hatte sie Masken gesehen, die gesichtslosen Phantome der Täter. Nur eines war immer gleich: Am Ende stand die Dunkelheit, die Ohnmacht, in die sie als Kind gefallen und aus der sie erst nach einem schweren Fieber ohne konkrete Erinnerungen erwacht war.
    Wie immer nach einer von einem Alptraum verseuchten Nacht, stand sie schnell auf, so als warte viel Arbeit auf sie. Um ihr Äußeres kümmerte sie sich ohnehin wenig, doch an diesem Morgen noch weitaus weniger. Außerdem war das Atelier – bei aller Armseligkeit – ein byzantinischer Palast gegen diese Hütte. Nicht einmal eine Waschschüssel gab es. Ein paarmal fuhr sie sich mit den Fingerspitzen durch die Haare, dann schlang sie sich die Decke um die Schultern und öffnete die knarrende Tür.
    Im Hauptraum der Hütte herrschte bereits Leben. Der dickliche Junge, Aaron, der sie gestern Abend hierhergeführt hatte, kümmerte sich rührend um Inés, legte ihr einen Schal über die Schultern, dann einen auf die Knie, denn es war kalt und es schien nicht so, als würde es jemals wieder warm werden. Aaron lief herum, tat dies und das, holte in ein Tuch eingeschlagenes Schmalzgebäck hervor, das er Antonia und Inés anbot und am Ende doch fast allein verspeiste. Er ließ nur einen einzelnen duftenden Kringel übrig, den er mit einer kindlichen Geste auf Inés’ Schoß legte. Sie rührte den Kringel jedoch nicht an.
    Auch Carlotta war schon aufgestanden. Antonia sah sie draußen vor dem Fenster vorbeilaufen und beschloss, zu ihr zu gehen.
    Draußen war die Welt noch majestätischer. Es roch nach Stein und Herbst, das Gras hatte seine saftige Kraft verloren. Trient lag hinter einem Bergvorsprung verborgen, man ahnte es nur, wenn der Rauch von Schornsteinen durch das Tal zog. Ganz unten über der Schlangenlinie des Flusses lag Nebel, und an einigen Stellen der Abhänge stieg er zwischen Nadelbäumen auf oder blieb an ihren Wipfeln hängen.
    Carlotta blickte über das Tal, als Antonia zu ihr kam.
    »Wenn man das sieht«, sagte sie und atmete tief durch, »mag man gar nicht glauben, dass die Welt voll von ungeheuerlichen Dingen ist.«
    Antonia hakte sich bei ihr unter. So wie jetzt, in dieser Natürlichkeit, hatte Antonia ihre Freundin noch nicht gesehen. Carlotta war immerzu geschminkt und herausgeputzt gewesen, was kein Wunder war, denn ihre Kunden bezahlten sie nicht für Natürlichkeit, sondern für die Illusion von Verlangen und Ekstase. Im Gefängnis hingegen war Carlotta das Gegenteil gewesen, verschmutzt und eingesperrt wie ein wildes Tier. Jetzt wirkte sie zum ersten Mal frei, allerdings auch traurig wie jemand, der einen schweren Verlust erlitten hatte. Antonia konnte sich nicht vorstellen, was in ihr vorging, einfach deshalb, weil niemand, der keinen Folterkeller erlebt hat, sich eine Vorstellung davon machen kann. Man ahnte etwas: Angst und Schmerz, völligen Kontrollverlust über das, was geschieht; doch das waren nur hässliche Worte, so wie Hölle ein Wort war, das Schauer, aber keine Erschütterung auslöste. Dieses Erlebnis hatte Carlotta verändert, aber Antonia fühlte, dass Carlotta nicht darüber reden wollte. Nicht jetzt.
    »Wo ist Vater?«, fragte sie.
    »Er holt Wasser. Angeblich gibt es irgendwo dort hinten eine Quelle. Und danach will er mir eine Schlinge für den Arm machen, obwohl ich sie nicht brauche.«
    »Geht es deinem Arm besser?«
    »Er tut noch weh«, sagte Carlotta. »Aber nicht sehr.«
    Aus dem Haus drang die Stimme Aarons, der versuchte, Inés

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