Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
aufzuheitern.
»Er ist sehr nett, dieser Junge«, sagte Carlotta. »Er scheint Inés zu mögen. Wenn ich denke, wie andere Menschen auf sie reagieren, doch in den letzten Tagen hat sie so viele Freunde gewonnen: Hieronymus, Aaron, dich – und Sandro.«
»Ja, das scheint gegenseitig zu sein«, sagte Antonia. »Hast du bemerkt, dass Inés sich gestern gar nicht mehr von Sandro Carissimi trennen wollte?«
»So sehr wie an ihm hat sie noch nie an einem Menschen gehangen, nicht einmal an mir. Es ist, als würde er sie zum Leben erwecken. Er hat ihr wieder eine lustige Geschichte erzählt, die mit seiner Cousine Margherita zusammenhing. Glaubst du, es gibt diese Margherita überhaupt?«
»Jetzt ja«, sagte Antonia lächelnd. »Jedenfalls besitzt Sandro die wunderbare Gabe, Vertrauen zu wecken.«
»Das ist wahr. Vertrauen und anderes«, sagte Carlotta und blickte Antonia auf eine Weise an, die etwas Bestimmtes andeutete. Sie setzte sich auf eine taufeuchte Grasnarbe und blickte über das Tal. Antonia ließ sich neben ihr nieder. Hoch über ihnen kreiste ein Habicht, dessen gelegentliche Schreie verzweifelt klangen, obwohl sie es nicht waren. Er war auf der Jagd.
»Du siehst nachdenklich aus«, sagte Carlotta und spielte mit einem welkenden Löwenzahn. Es war offensichtlich, dass sie ein Gespräch über Antonia beginnen wollte, und Antonia ging bereitwillig darauf ein.
»Bis vor ein paar Tagen«, sagte Antonia, »sah mein Leben ganz anders aus als heute: Ich hatte meine Arbeit, meine Apokalypse, meine Liebhaber, ein gleichmäßig unruhiges Leben. Heute ist es verworren, und das macht mir zu schaffen. Da bricht etwas aus mir hervor. Es hat auch mit den Bildern zu tun, mit den Ideen für neue Fenster, schöne Fenster, die gute Gefühle erzeugen. Aber es geht um mehr.«
»Um Liebe.«
»Jahrelang gab es nur Kerle in meinem Leben, Statuen, Adonisse, Herkulesse, Spielzeuge, schlafende Schöne, aber keine Männer.«
»Und jetzt sind gleich zwei davon da«, sagte Carlotta. Da Antonia nicht antwortete, fragte sie: »Hast du mit Matthias geschlafen?«
»Ja. Gleichzeitig habe ich ihm die Ehe versprochen.«
»Große Güte, er muss ein Stier sein!«
Antonia lächelte. »Wie alle Männer wünscht er, dass er einer wäre.« Sie wurde wieder ernst. »Matthias ist – ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll -, er ist so selbstsicher, er hat immer eine Lösung und für alles eine Antwort, er hat alles im Griff. Wenn er mich an der Hand nähme, würde ich mit ihm auf einem Seil den Schlund der Hölle überqueren. Im Grunde war es damals so gewesen: Er – und meine Mutter – haben mich durch die Hölle meiner Kindheit geführt, mich gegen Schmähungen verteidigt, mich aufgeheitert, mich geschätzt, geliebt. Er war der Erste, den ich haben wollte, der Einzige, den ich jemals haben wollte.«
»Der Einzige bis heute , nicht wahr?«
Antonia schloss die Augen und versuchte die Wärme der Herbstsonne auf der Haut zu spüren.
»Wie soll ich wissen, wann ich begehre und wann ich liebe, Carlotta? Das ist unmöglich. Mit einem Mann schlafen, das ist für mich wie essen. Ich bin eine Dirne, und es macht mir noch nicht einmal etwas aus.«
»Du hast von Matthias’ Stärke gesprochen, seiner Selbstsicherheit … Ja, solche Eigenschaften kann man lieben, und man kann sie an mehreren Männern lieben. Doch die Liebe ist einzigartig, sie ist weder die Wurzel noch die Quersumme noch die Multiplikation von Eigenschaften, sondern eine Macht. Glaubst du, Helena ist von Paris ihrer schönen Brüste wegen entführt worden oder weil sie eine glänzende Unterhalterin oder eine Offenbarung im Bett war? Der Mann wäre ohne sie ein anderer Mensch gewesen, das ist Liebe.«
Antonia ergriff die Hand ihrer Freundin. »Dann hast du gewiss einmal geliebt. Es liegt irgendwo in deiner Traurigkeit verborgen.«
Carlotta atmete tief die frische Luft ein. »Es stimmt, ich habe geliebt«, sagte sie. »Und ich habe verloren. Was ich hatte, wird nie wiederkehren, bei niemandem, auch nicht bei deinem Vater. Ich liebe Hieronymus, aber es ist eine Winterliebe, verstehst du? Das letzte, kurze Glück zweier Menschen, die das Beste hinter sich haben.«
»Ich glaube, das hat er verstanden«, sagte Antonia.
Carlotta schüttelte den Kopf. »Nicht so gut wie ich.«
Nun schwiegen sie. Was über die Liebe gesagt werden konnte, war gesagt worden.
»Ich werde nachher nach Trient gehen«, sagte Antonia irgendwann. Sie sagte nicht, warum, und Carlotta fragte
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