Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Geschichte.«
Sandro wandte sich der Gestalt zu, die noch immer den Kopf gesenkt hatte.
»Inmitten all dieser politischen und theologischen Geschäfte«, fuhr er fort, »inmitten der Ränke und Intrigen, der Gesandten, Päpste und Kaiser, und in Anbetracht der Stellung der Opfer – allesamt hohe Geistliche -, drängte sich der Eindruck auf, das Motiv des Täters hinge mit dem Konzil zusammen. Doch das ist nicht der Fall. Es ist alles viel einfacher, viel simpler, und genau darum bin ich erst heute darauf gestoßen.«
Sandros Hand begann zu schmerzen, Blut lief über die Hand, tropfte in den Schnee. Die Verletzung war glücklicherweise nicht so gefährlich, dass sie sofort verbunden werden musste.
Das war seine Stunde, sein Auftritt.
»Ich glaube, es gibt auf der Welt keinen größeren Antrieb als die Liebe«, sagte er, mit einem gewissen verständnisvollen Ton in der Stimme. »Sie ist das größte Geschenk Gottes für die Menschen, und deswegen ist sie so umfassend, so heilig, so intensiv, dass manche Menschen nicht mit ihrer Kraft umgehen können. Sie verfallen der Liebe, sie tun alles für diese Liebe. Gut und Böse gibt es für solche Menschen plötzlich nicht mehr, Gut und Böse werden von der Liebe unwirksam gemacht. Auf diese Weise – durch eine starke Liebe, die nur noch sich selbst und keine Rücksicht mehr kennt – können sogar friedliche Menschen zu Verbrechern werden, und wenn es für das Überleben der Liebe notwendig ist zu morden, dann morden sie.«
Er trat näher an die Gestalt heran.
»Mit einem solchen Mord hat alles angefangen, nicht wahr?«
Er zog der Gestalt die Kapuze aus dem Gesicht. Der Schnee wirbelte um sie herum, kreiste sie ein, dicke Flocken, die auf den schwarzen Haaren haften blieben.
»Nicht wahr, Innocento?«
22
»Bertani hat sie verfolgt, bedroht, eingeschüchtert«, sagte Innocento. »Sie wollte von ihm weg, sie hat ihn verlassen, wollte bei mir bleiben, mich lieben, aber er hat alles unternommen, damit sie zu ihm zurückkehrt.«
Sie waren in Sandros Amtsraum, er selbst, Innocento, Luis und eine der Wachen. Sandro hatte die zweite Wache gebeten, sich nach Antonia zu erkundigen, Forli über die Verhaftung Bericht zu erstatten und heißen Branntwein zu bringen. Es war erbärmlich kalt, Sandro erinnerte sich nicht, jemals so gefroren zu haben, und auch Luis und der Soldat hatten sich in ihre Mäntel gewickelt.
Der Einzige, dem das alles nichts auszumachen schien, war Innocento. Er saß in entspannter Haltung auf dem alten Stuhl und blickte an Sandro vorbei an die Wand, so als tue sich ein weites Meer vor ihm auf. In einer Ritze des Mauerwerks hatte sich ein Käfer verfangen, vermutlich in den Resten eines verlassenen Spinnennetzes, und kämpfte um sein Überleben. Innocento sah genau dorthin, während er Sandros Fragen beantwortete.
»Gina«, sagte Sandro.
»Ja, Gina. Sie war Bertanis römische Konkubine gewesen, er hatte in jeder Stadt eine. Er sagte ihr immer, dass er sie am liebsten von allen mochte, aber das bedeutete bei ihm bloß, dass er sie am liebsten von allen schlug. Ich begegnete ihr bei irgendeiner Festivität während des Karnevals, und ich war sofort – ich glaube, ich liebte sie in dem Moment, als sie mich anlächelte und mit großen Augen ansah. Heute weiß ich nicht mehr, wie wir die ganze Nacht überstanden haben, denn wir berührten uns nicht und redeten wenig. Dass sie Bertani ›gehörte‹, erfuhr ich erst später. Ich sah sie wieder und wieder und wieder. Wir näherten uns an wie Kinder, die einander fremd sind. Ich erzählte niemandem von ihr. Meine Freunde hätten gelacht, wenn ich ihnen gesagt hätte, dass ich Gina nach der fünften, sechsten Begegnung noch immer nicht besessen hatte. Sie war für mich zu kostbar.«
Er sah Sandro an, der die Augen niederschlug.
»Aber natürlich schliefen wir irgendwann doch miteinander, und von da an sehr oft«, fuhr Innocento fort. »Bertani war ahnungslos. Er kam nicht oft nach Rom, aber wenn, dann musste Gina ihm zur Verfügung stehen. Irgendwann hielten wir das nicht länger aus. Keine Liebe hält so etwas auf Dauer aus. Als sie ihn schließlich verließ, drohte er ihr, sie umzubringen. Sie hatte Todesangst. Ich versteckte sie, so gut ich konnte, aber das änderte nichts an ihrer Angst. Sie weinte j eden Tag. Ich wünschte Bertani den Tod, und da kam mir der Gedanke, ihn umzubringen. Trient war geeignet. Hier wimmelte es von Geistlichen, von Verdächtigen, und die Quartiere waren meist nicht bewacht.
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