Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Fluss, an der Galgeneiche. Wartet auf mich, wenn ich noch nicht dort bin. Falls Ihr nicht kommt, reise ich im Morgengrauen ab. Hier wird es mir zu gefährlich. H.
Dieser Esel, dachte Luis. Dermaßen den Kopf zu verlieren! Hagen könnte mit seiner übereilten Reaktion alles verderben. Dabei bestand überhaupt keine Gefahr, wenn man besonnen blieb. Was hatte Sandro schon in der Hand? Mutmaßungen, mehr nicht. Hagen musste zur Vernunft gebracht werden.
»Wir unterbrechen die Tortur«, befahl er. »Schafft die Inquisitin in den Kerker. Die Untersuchung wird morgen fortgesetzt.«
Er hat sein Gesicht tief in der Kapuze verborgen, als er das Gefängnis verlässt. Niemand soll ihn erkennen, während er auf dem Weg zur Galgeneiche am Fluss ist. Allerdings ist ohnehin niemand zu sehen. Der Domplatz ist menschenleer, die Gassen sind, anders als sonst zu dieser späten Stunde, wie ausgestorben, bevölkert nur von schrägen Schatten, die der Mond wirft. Er überquert den Domplatz, geht an der großen Treppe des Gotteshauses vorbei, dort, wo morgen Mittag die Proklamation verkündet wird. Sie wird diese Stadt verändern. Die Menschen werden sich noch beharrlicher verstecken als jetzt, werden verleugnen, dass es sie gibt, sie werden ihre eigene Existenz abstreiten. Wenn sie nicht gesehen werden, so glauben sie, werden sie auch nicht verdächtigt, wie kleine Kinder, die die Augen vor Fremden verschließen, in der Hoffnung, dadurch unsichtbar zu sein. Dafür hat er nur ein Lächeln übrig.
Er glaubt, eine Bewegung hinter sich zu spüren, bleibt stehen und dreht sich um. Alles ist ruhig. Nein, er wird nicht verfolgt. Er ist allein. Er setzt seinen Weg fort.
Als Erstes wird er morgen die niederen Geistlichen befragen, die Pfarrer und Hilfsgeistlichen. Sie sollen ihm die Namen derer nennen, die selten oder überhaupt nicht zum Gottesdienst erscheinen, denn sie haben sich vom Himmlischen entfernt. Und danach will er die Namen derer erfahren, die keine einzige Messe versäumen, denn das Böse tarnt sich gerne auf diese Weise. Wer sich bei der Befragung verängstigt zeigt, scheint Schuldgefühle zu haben; wer allzu gleichmütig reagiert, wird völlig vom Teuflischen beherrscht. Wer die Denunziation verweigert, ist ebenso suspekt wie derjenige, der zu schnell und zu viele denunziert. Diejenigen, die gegen ihn und die Inquisition reden, sind ebenso schuldig wie die anderen, die sich einschmeicheln.
Einen Winter lang wird diese Stadt zittern. Im Frühling, wenn er Trient verlässt, wird niemand mehr vom Konzil sprechen, sondern alle nur noch davon, wie konsequent Luis de Soto dem Übel die Wurzeln gekappt hat.
Für einen kurzen Augenblick zuckt der Gedanke durch seinen Kopf, dass es dieses Übel, das er verfolgt, gar nicht gibt. Dass er es erfunden hat. Dass er es braucht, um einen Vorteil daraus zu ziehen. Er glaubt zwar an den Teufel und an das Teuflische im Menschen, nicht aber daran, dass es sich pestilenzartig verbreitet. Es steht dem Individuum frei, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden, man kann verführt, aber nicht befallen werden. Was die Hure Carlotta angeht: Sie ist schuldig der Prostitution und der Sittenlosigkeit, nicht aber des Mordes, das glaubt er nicht. Anfangs war es anders gewesen, anfangs schien sie ihm wirklich verdächtig. Oder? Er erinnert sich nicht mehr genau, will es auch gar nicht, das beunruhigt bloß. Nie wird jemand erfahren, dass er Carlotta für unschuldig an den Morden von Trient hält. Nicht einmal er, Luis, selbst. Der Augenblick, in dem ein Mensch die Wahrheit über sich erkennt, ist stets so kurz, dass keine Gefahr besteht, dass er Schlüsse daraus zieht.
Carlotta bleibt schuldig, und die Trienter werden schuldig, weil Luis ihre Schuld benötigt. Also glaubt er daran. Und da Carlotta es nicht allein getan haben kann, da sie Villefranche nicht umgebracht haben kann, hat sie Helfer, Besessene wie sie. Je mehr es werden, je pompöser eine Verschwörung erscheint, umso eher wird sie als Tatsache anerkannt.
Er hat das nicht geplant, es hat sich entwickelt. Er hat die Morde nicht begangen. Diese Morde haben alles komplizierter für ihn gemacht. Plötzlich hat Sandro herumgeschnüffelt, Verhandlungspartner wie Cespedes und Villefranche starben, der Papst wurde unruhig … Und er, Luis, wurde in eine Geschichte hineingetrieben, die er nicht mehr selbst schrieb. Bei Gott, er hat nicht vorgehabt, ein Inquisitor zu werden, der eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Aber nun war es
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