Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Flugblatt in Auftrag gab. Nun ergab alles einen Sinn. Wenn Innocento der Mörder war, wenn er mir das Leben retten wollte, dann musste ich ihm dich nur als Lockmittel vorsetzen. Luis de Soto mitten in der Nacht einsam am Fluss: Eine bessere Möglichkeit als die würde er nicht bekommen. Natürlich gab es keine Garantie dafür. Ich gab ihm absichtlich eine Stunde Zeit, bevor er mir einen Gefallen tun sollte, so hatte er ausreichend Gelegenheit, zum Fluss zu gehen, dich umzubringen und dann meine Bitte zu erfüllen. Niemand hätte ihn in Verdacht, du wärst tot – und mir wäre geholfen.«
Sandro zögerte und sah zu dem Platz, auf dem Innocento eben noch gesessen hatte. »Er hatte recht, ich habe gehofft, dass er es ernst meinte, als er sagte, er stünde tief in meiner Schuld. Ich habe Innocentos Freundschaft ausgenutzt.«
»Innocentos? Du vergisst wohl, dass du auch mich benutzt hast.«
Sandro trank vom Branntwein. »Das hört sich ja an, als sei das für dich etwas Verwerfliches. Du benutzt Menschen doch andauernd. Mich hast du jahrelang benutzt, zuletzt, als du dafür gesorgt hast, dass ich Visitator wurde. Nachdem der Fürstbischof deine Bitte ablehnte, selbst die Untersuchung zu führen, ging es dir einzig darum, dass nicht irgendein fremder Visitator hinter deine Machenschaften kommt.«
»Das gibt dir noch lange nicht das Recht, mich wie eine Ziege, die den Bären anlocken soll, zu missbrauchen. Innocento ist ein Wahnsinniger! Du hast mich einem Wahnsinnigen zum Fraß vorgeworfen.«
»Für dich ist jeder gleich wahnsinnig«, erwiderte Sandro heftig. »Inés, die einfach nur jemanden braucht, der ihr schöne Dinge erzählt; Carlotta, die sich schlagen lässt, um sich zu ernähren; und ich, der ich so verrückt war, nicht den leichtesten Weg einzuschlagen, den Weg, den du seit Jahren gehst. Du manipulierst, korrumpierst und lügst, wie es dir gefällt. In meinen Augen bist du nicht weniger ein Mörder als Innocento, denn du hast Antonia erniedrigt und gequält. Ohne mit der Wimper zu zucken nimmst du den Menschen die Menschlichkeit, und was, frage ich dich, ist das anderes als Mord? Ich könnte dich auf der Stelle …«
Sandros zitterte am ganzen Körper, doch er nahm sich zusammen. Drei tiefe Atemzüge und ein Becher Branntwein machten ihn ruhiger.
»Eine Hure bist du ebenfalls, Luis, nur dass du deinen Kopf verkaufst, deinen Geist, deine wunderbare Gabe. Das wäre in Ordnung, solange du Überzeugungen hast. Doch du hast keine. Deine einzige Überzeugung ist, immer gerade das zu tun, was anderen gefällt. Und ich war so dumm, Jahre zu benötigen, um das zu verstehen.«
»Wie undankbar du bist! Ich habe dich gefördert, dich zu meinem Assistenten gemacht …«
»O ja!«, unterbrach Sandro. »Weil ich der Esel war, der dich bewundert hat. Die Mitbrüder im Spital hatten dein Wesen erkannt, nur ich war töricht genug, zu dir aufzusehen. Ich bin fertig mit dir.«
»So kannst du nicht mit mir reden!«
»Kann ich nicht? Ich bin hier. Ich rede. Lass mich doch verhaften, spann mich doch aufs Rad. Mal sehen, wer dir noch gehorcht. Noch Branntwein gefällig? Oder ein wenig Gebäck? Du bist erledigt, Luis. Du warst drauf und dran, eine ganze Stadt unschuldig auf den Scheiterhaufen zu schicken. Der große de Soto hat geirrt. Und wie er geirrt hat! Dieser Donnerschlag wird in ganz Italien zu hören sein.«
Zunächst allerdings folgte der Donnerschlag der Tür, die Luis hinter sich zuschlug.
Dann folgte Stille, die mit einer plötzlichen Leere einherging, wie man sie spürt, wenn man eine große Aufgabe erledigt hat. Die Nacht, die Zufriedenheit, einen Mörder gefunden zu haben, die Niedergeschlagenheit, dass Innocento dieser Mörder war – dies alles bewirkte die Stille und die Leere.
Sandro öffnete langsam den Laden. Es hatte aufgehört zu schneien, nur eine dünne Schicht Schnee war liegen geblieben, doch es reichte, um Trient mit einem feinen weißen Schleier zu überziehen. Für kurze Zeit hatte Sandro die Kälte vergessen, doch jetzt fror er wieder. Eine Weile stand er nur so da, dann fiel ihm etwas ein.
Er ging zu dem Käfer an der Wand, befreite ihn aus dem verlassenen Spinnennetz und trug ihn zum Fenster. Jenseits des Ladens setzte er ihn auf einen Mauervorsprung und wartete den Moment ab, in dem das Tier aus seiner Starre erwachen würde. Nebenbei trank er Branntwein. In Gedanken reiste er in seine Jugend, als er zum letzten Mal berauschende Getränke getrunken hatte. Sieben Jahre. Konnte man sieben
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