Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Jahre eines Lebens auslöschen, widerrufen?
Er atmete die Schneeluft ein, in deren Genuss er in Neapel selten kam. Im Kolleg herrschte immer die gleiche Luft, etwas stickig, etwas salzig, etwas heimelig. Der Tagesablauf war den Gebeten unterworfen, der Versenkung in innere Welten. Dazu Gespräche mit den Mitbrüdern. Gemeinsame Lesungen. Besuche bei den Kranken, den Blinden, den Verlassenen, Besuche bei der Verzweiflung. Neapel war weit weg. Nichts von dem, was er hier in Trient vorgefunden hatte, würde ihm dort wiederbegegnen, keine spektakulären Aufgaben, keine Liebe.
Allerdings würde er nirgendwo das finden, was er in Neapel gefunden hatte, keine alten Hände, die sich nach der Berührung seiner Hand sehnten, keine alten Augen, die den Trost in seinen Augen suchten. Keine Ruhe, jedenfalls nicht die Ruhe, die er gewöhnt war, die Ruhe, die man empfindet, wenn man viel mit sich allein ist.
Er stand vor der schwersten Entscheidung seines Lebens, das wurde ihm erst jetzt in dieser Stille, in dieser Leere, mit dem Branntwein in seinem Blut, bewusst.
Als der Käfer zu laufen begann, glitt ein kurzes Lächeln über seine Lippen. Dann verlor er das erschöpfte Tier aus den Augen.
Hauptmann Forli saß zwischen zwei Öllampen an seinem Schreibtisch im Palazzo Pretorio. Seine Feder kratzte über das Papier, untermalt von seinen stillen Flüchen, wenn er sich mal wieder verschrieben hatte oder sich fragte, warum er diesen ganzen »Zinnober« eigentlich mitmachte. Berichte schreiben gehörte offenbar nicht zu seinen Lieblingstätigkeiten.
Er bemerkte Sandro erst, als dieser unmittelbar hinter ihm stand.
»Ihr seht aus wie jemand, der soeben ausgebuht wurde«, sagte Forli. »Was zieht Ihr für ein Gesicht? Die Sache ist ausgestanden, und Ihr habt beachtliche Arbeit geleistet. Nicht schlecht für ein schmales Mönchlein, wirklich nicht schlecht. Ist die Hand in Ordnung? Soll ich den Arzt rufen? Fühlt Ihr Euch krank?«
»Ich fühle mich betrunken.«
»Habt Ihr den Krug allein geleert?«
»Fast.«
»Jawohl, dann seid Ihr betrunken.«
Sandro stellte den leeren Krug auf den Tisch. »Ist noch einer da?«
Forli zögerte nur einen winzigen Augenblick. »Branntwein«, rief er einem seiner Leute auf dem Gang zu. »Heiß oder kalt, das ist egal.«
Er holte Sandro einen Stuhl.
»Ich will mich nicht setzen. Ich will zu Antonia.«
Forli warf einen Blick auf die Tür, die zu der Kammer führte, in der er manchmal schlief, wenn es spät wurde. »Sie schläft dort drin, und wenn Ihr mich fragt, wacht sie vor morgen Mittag nicht auf.«
»Was … was hat er ihr angetan?«, fragte Sandro.
Forli verzog das Gesicht, als hätte er in etwas Klebriges gegriffen. »Fragt mich so etwas nicht.«
»Was … hat … er … ihr … angetan?«, wiederholte Sandro mit mühsamer, scharfer Deutlichkeit.
Forli gab nach. »Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt: Der Wippgalgen. Ihre Schultergelenke sind angeschwollen, und sie hat zahlreiche Schürfwunden. Die Wassertortur. Sie hatte mit Sicherheit einen Erstickungsanfall, und sie wird solche Anfälle noch eine Weile lang in unregelmäßigen Abständen bekommen.«
Sandro setzte sich. Sein Kopf sank auf die Tischplatte. »O Gott«, flüsterte er.
Forli legte ihm die Hand auf die Schulter. »Kommt schon. Sie ist ein zähes Mädchen, sie lässt sich von so etwas nicht unterkriegen. Sie war sehr tapfer. Es sollte Euch nicht schwerer fallen als ihr, tapfer zu sein.«
Der Branntwein wurde gebracht, zwei volle Korbflaschen. Forli schenkte Sandro einen Becher bis zum Rand voll. »Trinkt, Bruder.«
Sandro trank. Nicht weil er glaubte, dass ihm das helfen würde, sondern … Er wusste nicht, warum er weitertrank, so wenig, wie man wusste, warum man liebte.
Forli, der froh war, etwas tun zu können, kümmerte sich um Sandros verletzte Hand und um die Schramme im Gesicht, die von Matthias’ Schlägen stammte. Nebenbei berichtete er, dass man Innocento ins Kastell gebracht und dort in einem ebenso sicheren wie bequemen Raum einquartiert habe. Der Fürstbischof erwarte einen Bericht. Auch der Papst sei über die Verhaftung seines Sohnes informiert. Über seine Reaktion wisse er nichts.
»Was Carlotta da Rimini angeht …«
»Die habe ich ja völlig vergessen«, sagte Sandro und griff sich an die Stirn. »Ich habe Ihr geraten, im Keller des Palazzo Rosato zu warten.«
»Wenn ich in einem vergleichbaren Zustand, wie Ihr jetzt seid, bin«, erwiderte Forli, »vergesse ich sogar den Vornamen meiner Mutter.
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