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Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Titel: Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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auf, sie wurden gleichsam in Millionen Fetzen zerrissen. Es war, als würden die Figuren in den Fenstern vor Schmerz schreien, und unter ihren Schreien war auch der von Antonia. Dann wurde es dunkel.
    Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie in ihrem Zuhause erwachte, über sich ihre Mutter, die ihr besorgt die Stirn abtupfte. Vier Tage hatte sie gefiebert. Und an die Nacht des splitternden Glases erinnerte sie sich nur vage, sehr vage. Sie litt unter Alpträumen, die laut und verstörend waren, und in denen gesichtslose Wesen herumliefen.
    Matthias kümmerte sich von da an noch mehr um Antonia, seine Sorge um sie war rührend: Er besorgte Honiggebäck für sie, schnitzte ihr etwas unbeholfen ein Pferd, das wie ein Esel aussah, schnitzte ihr ein Holzkreuz, nahm sie in die Arme, begleitete sie auf allen Wegen …. Seine Beziehung zu ihr nahm intime Züge an, so als wäre sie eine zerbrechliche, zu zerbrechen drohende Kostbarkeit. Und vor allem: Er blieb ihr treu, als hätte er einen Schwur geleistet. Tatsächlich hatte sie manchmal das Gefühl, etwas Zwanghaftes in seiner Freundschaft, seiner Treue zu entdecken. Gemeinsam lasen sie die Bibel, sie lernten die Handschrift des anderen, sie erzählten sich alles.
    Doch weder seine noch die elterliche Zuwendung konnten verhindern, dass ihr früher ausgeglichenes Wesen ruhelos wurde. Sie konnte bei Tisch nicht mehr stillsitzen, brauchte ständig Ablenkung, wurde sprunghaft, und sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren, das fiel ihr unglaublich schwer. Als ihr Vater auf der Suche nach Arbeit Ulm und die Familie verlassen musste und gen Frankreich reiste, tat ihr das fast körperlich weh, und sie fieberte zwei Wochen lang.
    Adelheid, ihre Mutter, war es, die begriff, dass diese fiebrige Unruhe, die von ihr Besitz ergriffen hatte, einen Kanal brauchte, damit sie sich nicht wie eine Flut ihres ganzen Wesens bemächtigte. Bis dahin hatte keiner von ihnen in Erwägung gezogen, dass Antonia in die Fußstapfen ihres Vaters treten könnte. Sie war ein Mädchen und würde es schwer haben unter den Gesellen, und später würde sie es schwer haben unter den konkurrierenden Glasmalern. Die Gilde nahm ohnehin nur Männer auf. Antonia selbst sträubte sich zunächst dagegen, auch nur eine einzige Scherbe anzufassen, so als wäre diese ein Wesen, das sich in ihr Fleisch bohren würde. Adelheid aber blieb fest.
    »Du musst dich überwinden.«
    »Ich bin ein Mädchen. Ich brauche das nicht zu machen.«
    »Dass du ein Mädchen bist, spielt hierfür keine Rolle. Es liegt in deiner Macht, ob du etwas willst.«
    Adelheid vertraute auf einen mächtigen Verbündeten: In Antonia floss das Blut von elf Generationen Glasmalern, die einst in Augsburg ihre Arbeit mit Glas begonnen und seither nie aufgegeben hatten. Mit einer Geduld, wie nur Mütter sie haben, gelang es Adelheid über Monate hinweg, Antonia mehr und mehr mit dem Glas und der Glasmalerei vertraut zu machen. Adelheid selbst unterrichtete Antonia, denn sie hatte Hieronymus während der Ehejahre sehr genau auf die Finger geschaut. Jeden Morgen wurde eine Stunde lang mit Bruchstücken alten Glases geübt, getarnt als Spiel, und als Antonia sich erst einmal überwunden hatte, lernte sie schnell und immer schneller: welche Substanzen man bei der Glasherstellung beigeben musste, um bestimmte Farbwirkungen zu erzielen; Menschen und Gegenstände zu zeichnen; Glas zu schneiden und es in Bleiruten einzufassen; optische Wirkungen zu erzielen, zum Beispiel die, dass man bei einer Fensterrose als Betrachter den Eindruck gewinnt, die Rose drehe sich; dass man in Kirchenfenstern besonders viel blaues Glas verwenden sollte, weil das menschliche Auge blau besonders angenehm findet – vielleicht, weil der Himmel blau ist und schon der Säugling in den Himmel schaut; sie lernte, Motive zu finden und – dies vor allem! – sie zu hinterfragen.
    »Alles ist möglich«, sagte Adelheid. »Nichts auf der Welt ist so heilig, dass man nicht daran rütteln dürfte.«
    Die zehnjährige, elfjährige, zwölfjährige Antonia rüttelte an überhaupt nichts. Zwar fand sie Gefallen an der Glasmalerei, am Spiel mit den bunten Scherben, aber während sie handwerklich immer besser wurde und den Umgang mit dem Glas bald gut beherrschte, fehlte es – selbst in Anbetracht ihres kindlichen Alters – ihren Zeichnungen an Qualität und ihren Ideen an Originalität. Sie zeichnete entweder nach, was andere vor ihr gezeichnet hatten, oder sie zeichnete Adelheid

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