Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
gegangen waren.
Carlotta glaubte, am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen zu sein – sie hatte ihr Kind verloren und ihren Mann, und ihr Pflegekind war verwirrten Geistes -, doch nicht zum letzten Mal täuschte sie sich. Das Bistum verweigerte ihr wegen des frevlerischen Selbstmordes ihres Gatten eine Rente. Danach blieb Carlotta nichts anderes übrig, als eine Weile von den geringen Ersparnissen zu leben, die sie zurückgelegt hatte. Sie verkaufte alle Möbel und Kleider, selbst die Lauras, um sich und Inés ernähren und sich ein bescheidenes Heim leisten zu können. Ihre Eingaben an Erzbischof del Monte blieben unbeantwortet, und ihr Versuch, zu ihm vorzudringen, scheiterte. Sogar die letzten, spärlichen Stützen ihrer bisherigen Existenz brachen zusammen, als die Ersparnisse aufgezehrt waren. Carlottas Leben wurde fortgespült, ja, sie hatte tatsächlich den Eindruck, sich in einem reißenden Gewässer zu befinden. Zuerst hörte sie auf, an die Kirche Gottes zu glauben, und dann hörte sie auf, an Gott zu glauben. Von dort bis zum nächsten Schritt war es nicht mehr weit: Würde, Hoffnung, Stolz wurden zu lügnerischen Worten. Die Leere, die Inés in ihren Augen trug, trug Carlotta in ihrem Herzen.
Sie wurde Konkubine, ihre finanzielle Lage machte es nötig, und ihre Schönheit machte es möglich. Es war seltsam, dass ihr Äußeres unter der Verzweiflung nicht gelitten hatte, aber sie sagte sich, dass auch eine Rose, die man vom Lebenssaft abschneidet, noch eine Weile blüht und duftet, obwohl sie schon längst gestorben ist.
Den Namen Pezza konnte sie nicht länger tragen, er klang einer Konkubine unangemessen. Als Carlotta da Rimini ging sie nach Rom, wo sie sich und Inés von ihrer Arbeit ernährte. Als Hure ertrug sie die Launen und Verrücktheiten der reichen Kunden, küsste auf Befehl, nahm Körperhaltungen ein, von denen sie nie geglaubt hätte, dass es sie überhaupt gab, und machte jedem, der es wünschte, ihre Brüste zum Geschenk.
Jahrelang kannte sie trotz allem keine Rachegefühle für den Mann, den sie als den Hauptschuldigen an ihrem Elend ansah. Aber als Giovanni Maria del Monte im Frühjahr 1550 völlig überraschend zum Papst gewählt wurde, verlor Carlotta den letzten Glauben an eine übergeordnete ausgleichende Gerechtigkeit. Ihr Leben war verschlungen worden, während del Monte, der unschuldige Kinder der Inquisition übergab, der Pietro denunziert hatte und ihr, der Witwe, zynisch die Rente verweigerte, den Stuhl Petri bestieg.
Da war es, als erwache sie aus einer Benommenheit, und sie beschloss, selbst für die Gerechtigkeit zu sorgen.
Jeder Mensch hatte Schwächen, egal von welchem Stand er war. Der berühmteste Maler konnte sein Augenlicht, der größte Feldherr konnte seinen Posten verlieren. Niemand stand so hoch, dass er sich über dem Schicksal befand, nicht einmal ein Papst. An ihn selbst kam sie nicht heran, er war zu gut bewacht. Die verwundbare Stelle Julius III. war sein Sohn. Die Frau, die Innocento geboren hatte, bedeutete Julius nicht viel, jedenfalls war nicht bekannt, dass er ihr jemals mehr als Geld gegeben hatte. Aber Innocento, sein Fleisch und Blut! Ganz Italien hatte staunend zugesehen, wie der Heilige Vater diesen jungen Mann in sein Leben eingelassen hatte. Innocento war sein Favorit, er verwöhnte ihn mit Reichtümern und Titeln und kleinen Statuen aus Gold. Die Einrichtung von Innocentos Palazzo war eines Kaisers würdig, und die Festlichkeiten die darin stattfanden, erinnerten an die vergangene, cäsarische Pracht. Schlug Innocento einmal über die Stränge, tat der Papst alles, um die Sache zu vertuschen. Er erfüllte ihm ausnahmslos jeden Wunsch.
Kein Zweifel, del Monte liebte seinen Sohn. Innocento war das Kostbarste in seinem Leben – so wie Laura das Kostbarste für Carlotta gewesen war.
Seither trachtete sie Innocento nach dem Leben. Die Person Innocento war unwichtig, bloß ein Objekt. Carlotta hatte bis heute niemals lange über ihn nachgedacht. Sie dachte nur an die Verzweiflung, in die sie Papst Julius stürzen würde. Er sollte spüren, was es hieß, das einzige Kind zu verlieren.
Was sie in diesem Raum von Innocentos Leben gesehen hatte, wurde von den Zeilen des Briefes weggespült. Nur kurz, nur für wenige Augenblicke, war Innocento für sie ein Mensch gewesen. Nun war er kein Mensch mehr. Er hatte keinen Hund, keinen Ball und keine Geliebte.
Das Einzige, was er hatte, war ein Vater.
Er streichelt den jungen Körper neben sich, bevor er
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