Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
sie Pietro nicht gedrängt hätte …
Sie ging zum Gerichtsgebäude der Inquisition, zum Sitz des Bistums, schrieb Eingaben – eine Antwort erhielt sie nicht. Einmal kam sie in Rufweite des Erzbischofs del Monte und schrie, bettelte ihn an, ihr Auskunft zu geben, doch er wandte sich von ihr ab und ließ sie abdrängen. Drei lange Wochen irrte sie von einer Behörde zur anderen, fragte, wo ihr Kind und ihr Mann sich befänden, ob sie gesund wären, ob sie noch lebten. Drei Wochen lang Übelkeit und Fieberanfälle. Sie aß fast nichts. Innerhalb von nur zwanzig Tagen war aus ihr, der schönen, zufriedenen Frau, ein Bündel aus Qual geworden.
Und dann, eines Morgens, als sie trotz starker Kopfschmerzen aufstand und sich mühsam in die Küche schleppte, saß dort – Pietro. Als er sie sah, rührte er sich kaum, so als wäre er ein Geist. Blass und dünn war er geworden wie sie, doch ansonsten schien er äußerlich unversehrt.
Sie warf sich ihm zu Füßen, umklammerte seine Beine, seinen Körper, küsste ihn.
»Was haben sie mit dir gemacht, Pietro, lieber Pietro? Was haben sie dir angetan?«
Er brauchte eine Ewigkeit, um zu sagen: »Nichts.«
Nichts, und doch sehr viel. Pietro berichtete so langsam, als laufe seine Zeit anders, dass er drei Wochen lang in einer Einzelzelle ohne Bett oder irgendeinen Gegenstand verbracht habe. Niemand hatte mit ihm gesprochen. Einmal täglich waren ihm Brot, Kohlblätter und eine Schale Wasser durch eine Klappe gegeben worden. Man hatte ihn nicht befragt. Man hatte ihn nicht vorgeführt oder verurteilt. Man hatte ihn einfach drei Wochen lang ohne Licht und menschliche Stimme, ohne Papier, Kleidung oder irgendetwas sonst festgehalten. Seine Fähigkeit zu denken war beinahe zum Stillstand gekommen. Dieses Nichts hatte ihn halb wahnsinnig gemacht. Dann hatte man ihn kommentarlos freigelassen.
In den nächsten Tagen erholte er sich wieder ein wenig und begann nach und nach, seine Sprache wiederzufinden, aber er wurde nie mehr wie früher, und die schlechten Nachrichten bezüglich Laura drückten ihn nieder. Er war fähig, aber nicht willens, die Wohnung zu verlassen. Während Carlottas Hoffnung sich zwischendurch neu entzündete – drei von sechs Schülerinnen waren eine nach der anderen zu ihren Eltern zurückgekehrt -, wurde Pietro völlig von Passivität und Schwarzseherei beherrscht.
Carlotta versuchte, an die freigelassenen Kinder – allesamt aus sehr wohlhabenden Familien – heranzukommen, aber ihre Eltern verhinderten, dass Carlotta mit ihnen sprach und waren auch durch Tränen nicht zu erweichen. Vermutlich war ihnen deutlich gemacht worden, welche Konsequenzen ein Bruch der Geheimhaltung haben würde.
Siebzehn Tage nach Pietros Rückkehr geschah ein zweites Wunder: Als Carlotta von einem weiteren Versuch, etwas über Laura zu erfahren, nach Hause kam, saß Inés auf den Stufen vor ihrer Wohnung. Ihre Kleider waren in einem furchtbaren Zustand, verschmiert und zerrissen, sie war bis auf die Knochen abgemagert, und ihr Körper wies zahlreiche Verletzungen auf, die allerdings schon halb verheilt waren. Besonders an den Arm- und Fußgelenken sowie am Hals war die Haut aufgerissen und graublau verfärbt.
Carlotta glaubte, ohnmächtig vor Glück zu werden, und sie schloss Inés nicht weniger herzlich in die Arme, als wenn Laura vor der Tür gestanden hätte. Wieder hoffte Carlotta. Anders als Pietro, der nach seiner Rückkehr wenigstens ein paar Worte hatte sagen können, war aus Inés kein Laut herauszubekommen. Sie ließ alles mit sich machen – waschen, kämmen, zu Bett bringen, wecken -, doch sie sprach nicht. Manchmal bekam sie Anfälle, ging durch die Hölle. Carlotta stellte sich vor, wie Inés’ Hölle aussah: das Knarren der Streckbänke, der Geruch der Angst, die überall um einen herum und in einem selbst ist, der Blick in die Augen der Eiferer und in die unschuldigen Augen der geständigen Opfer, das Lederband, das sich enger und enger um den Hals zieht, bis man glaubt, keine Luft mehr zu bekommen … Inés war zerbrochen, ihre Augen erloschen. Sie hatte Furchtbares gesehen. Und Carlotta wurde den grauenhaften Verdacht nicht los, dass das, was Inés gesehen hatte, die schreiende, sterbende Laura gewesen war. Denn Laura kam nicht wieder.
Als vier Monate nach Inés’ Auftauchen klarwurde, dass es keine weiteren Wunder mehr geben würde, nahm sich Pietro das Leben. Er wurde am Strand bei Siponto gefunden, dort, wo er, Carlotta und Laura früher immer spazieren
Weitere Kostenlose Bücher