Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
längst weit voraus. Deine Fenster sind intensiv und subversiv, und wenn du eines Tages mehr als nur Apokalypsen erschaffst, wirst du die Größte unserer Zunft.«
»Das ist – das ist schmeichelhaft, aber weit übertrieben.«
»So wahr ich Hieronymus Bender heiße. Bei Gott, du hast Talent. Toulouse wird es beweisen. Ich habe deine neuesten Zeichnungen gesehen: das Mädchen, den Engel, den sterbenden Bischof. Diese Zartheit des sterbenden Mädchens: unglaublich! Und wie sie den Engel ansieht, so als würde sie ihn für das, was er tut, lieben. Alle werden dich für ein solches Fenster bewundern, Antonia. Du hast schon mit der Arbeit angefangen, alles steckt bereits in dir drin! Wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet, da du anfängst, die schrecklichen Weltuntergänge zu vergessen und deinen Geist freizumachen für mehr, für das Universum der Gefühle. Worauf wartest du? Mach weiter! Lasse alles für Trient ruhen, ich kümmere mich allein um die Santa Maria Maggiore. Zeichne, Antonia, zeichne für Toulouse.«
Ein paar Atemzüge lang wusste sie nicht, was sie antworten sollte. Es war, als erzähle ihr Vater von ihrer Zukunft. Tausende von Figuren, die die Kathedralen Europas bevölkern würden, Gestalten, die in ihr entstehen und durch das Licht Gottes auf eine gewisse Weise leben würden. Toledo, Notre-Dame in Paris, Chartres, diese drei atemberaubendsten aller Kathedralen, schienen plötzlich möglich zu sein. Hieronymus hatte ihren wunden Punkt berührt, und er wusste es: Der Traum von Chartres und Toledo war nur wenig jünger als der Traum von Matthias.
Ihre Sprachlosigkeit ausnutzend, war Hieronymus fortgegangen, ehe sie etwas erwidern konnte. Sie wäre ihm gerne böse gewesen, doch sie konnte nicht. Er hatte sie daran erinnert, dass sie eine Künstlerin war und dass sie sich klar sein musste, was sie aufgab, wenn der Traum namens Antonia Hagen Wirklichkeit werden sollte.
Außerdem stand ihr Vater wegen Carlotta unter ungeheurer Anspannung, vermied es aber, über sie zu sprechen. Es war ja nicht nur der Verdacht gegen sie, der ihm zu schaffen machte, sondern auch die Tatsache, dass Carlotta eine Nacht mit einem anderen Mann verbracht hatte. Eigentlich nicht überraschend bei einer Konkubine, aber es ist ein Unterschied, etwas zu wissen oder unmittelbar damit konfrontiert zu werden. Antonia vermochte nicht, in ihn hineinzusehen. Immer schon hatte er die Dinge mit sich allein ausgemacht, sowohl den Tod seiner Frau, Antonias Mutter, wie den Tod seiner Figuren im Münster zu Ulm Anno 1531. Hieronymus hatte ein großes, wunderbares, verwundbares Herz, das er mit einer hohen Mauer umgab. So viel stand fest: Er liebte Antonia, und er liebte Carlotta. Für beide wollte er nur das Beste.
Die Kälte von Carlottas Zimmer schlug Antonia wie eine Wand entgegen. Inés saß reglos am offenen Fenster, viel zu dünn bekleidet und ohne Schal um die Schultern. Antonia ging vorsichtig an ihr vorbei und schloss das Fenster. Dann legte sie ihr behutsam eine Decke über die Knie und reichte ihr eine Birne, ein paar Trockenpflaumen sowie ein Käsebrot und einen Becher Wasser, wobei sie darauf achtete, sie nicht zu berühren. Ein paar Mal streifte der Blick des Mädchens sie, ohne etwas anderes als unendliche Gleichgültigkeit auszudrücken. Alles an ihr funktionierte wie ein Apparat, der von einer unsichtbaren Kraft angetrieben wurde. Ihren Bewegungen lag nichts Eigenes zugrunde, der Wille war nicht erkennbar. Angeblich war sie zwanzig Jahre alt, doch Antonia fand, dass sie wie vierzehn oder fünfzehn aussah. Nichts machte sie zur Frau. Sie schien an einem bestimmten Punkt ihres Lebens stehen geblieben oder aufgehalten worden zu sein. Wie es wohl in ihrem Innern aussehen mochte? Wie zutiefst zerstört wohl die Seele dieser jungen Frau war?
Gerade als Antonia das Nachthemd auf dem Bett zurechtlegte und die Decke aufschlug, spürte sie plötzlich, dass eine Gestalt hinter ihr stand.
Sandro wartete auf den jungen Kardinal Innocento del Monte vor dessen Palazzo, um ihn um Hilfe zu bitten. Sandro hatte – um im Jargon einfacher römischer Ragazzi zu sprechen – einen Mord bei ihm gut, und diesen Bonus wollte er nun einlösen. Sandro brauchte Zeit. Sandro brauchte einen Fürsprecher. Und er brauchte die Möglichkeit, eine peinliche Befragung zu umgehen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.
Kardinal Innocento del Monte war von einer seltsamen Schar gleichaltriger Männer umgeben, als er aus der Dunkelheit kam. Ein Mann
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