Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
und niemand antwortete auf ihre Rufe. Pietro gelang es, über die Mauer zu klettern und das Tor von innen zu entriegeln. Das Kloster war menschenleer. Bücher lagen aufgeschlagen auf den Pulten, in der Küche schimmelte eine Gemüsesuppe, zur Hälfte geschnittene Möhren lagen samt Messer auf dem Tisch, im Kräutergarten steckten Werkzeuge zum Jäten in den Beeten. Es war, als habe der Erdboden alle Bewohner des Gemäuers von einem Moment zum anderen verschlungen. Die Dunkelheit senkte sich über diesen Ort, es wurde Nacht. Carlotta fand den Schlafraum von Laura und Inés und legte sich in das Bett ihrer Tochter, wo sie einen Rosenkranz fand. Dort weinte sie still. Sie weinte, weil sie damals zum ersten Mal ahnte, dass sie das geliebte Kind, das sie zur Welt gebracht hatte, nie wiedersehen würde.
Heute, dachte Carlotta, als sie den Brief des Papstes wieder und wieder las, wäre Laura etwa so alt wie Innocento. Im einen Moment hatte sie das Bild ihrer heiteren, lachenden Tochter vor Augen, die Erinnerung an ein Mädchen, das durch hohes Gras läuft, das sich gerne Geschichten von ihr und Pietro erzählen lässt, das neben einer Kerze sitzt und ein Buch liest. Und im nächsten Moment sah sie Lauras schmerzverzerrtes Gesicht vor sich, hörte ihre Schreie: Mama, Mama! Schreie, die Carlotta nie wirklich gehört hatte, die aus dem Nichts kamen, von dort, wohin Laura verschwunden war.
»Giovanni Maria del Monte«, hatte die Antwort auf ihre Frage gelautet, wer für das Verschwinden Lauras und Inés’ verantwortlich war. Pietro hatte nach der Rückkehr nach Siponto Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um zu erfahren, was vorgegangen war. »Giovanni Maria del Monte und die Inquisition.«
Zum ersten Mal fiel der Name des bischöflichen Hoffnungsträgers zusammen mit dem Namen der gefürchtetsten Institution Italiens, und sie sollten für Carlotta fortan immer miteinander verbunden bleiben.
»Niemand hat mir etwas Offizielles mitteilen wollen«, erklärte Pietro, »alle geben sich verschwiegen. Der Vorfall wurde als geheim eingestuft.«
»Welcher Vorfall, Pietro? Nun sag doch endlich, was passiert ist.«
»Es gab Fälle von Besessenheit unter den Schwestern. Nachdem zwei Nonnen und einer Novizin die Mutter Gottes erschienen war, ordnete man eine Untersuchung an, und die kam zum Ergebnis, dass die Besessenheit nicht göttlichen, sondern teuflischen Ursprungs ist.«
»O mein Gott!«
»Man hat alle Nonnen und Kinder in ein Gebäude der Inquisition verbracht. Das alles weiß ich nur, weil ich einige Laden geöffnet habe, die ich nicht hätte öffnen dürfen.«
»Wo ist sie? Wo ist Laura?«
»Den Ort konnte ich nicht herausfinden. Nur, dass Erzbischof del Monte das Verfahren ausdrücklich gebilligt hat.«
»Wie kann er das? Er kennt dich doch. Du bist einer seiner besten Sekretäre. Er weiß doch, dass unser Kind nichts mit dem Teufel zu tun haben kann. Wieso lässt man Laura nicht frei und verhört nur die Nonnen? Laura ist keine Nonne, keine Novizin. Sie ist eine …«
»Schülerin«, fiel Pietro ihr ins Wort. »Sie ist eine Schülerin der Nonnen, und darum geht es.«
»Pietro! Du denkst doch etwa nicht, dass Laura …«
»Natürlich nicht! Sie ist nicht besessen, das ist absurd.«
»Dann geh und sage das dem Erzbischof.«
»Ich glaube, das wird nichts helfen. Del Monte hat sich in den letzten Monaten verändert. Er biedert sich bei einigen Kurienkardinälen an, um seine Karriere voranzutreiben, und von denen sind einige große Anhänger von Hexen- und Ketzerverfolgungen.«
»Du kannst es versuchen.«
»Wenn ich das tue, ermittelt morgen die Inquisition auch gegen mich.«
»Feigling«, rief sie. »Du elender Feigling.« Sie konnte nicht mehr klar denken. Es war, als breche ihr Herz in tausend Stücke. Sie beschimpfte Pietro mit den übelsten Wörtern und schlug mit den Fäusten gegen seine Brust.
Nach einer entsetzlichen Nacht voller Schmerzen und Vorwürfe sagte Pietro ihr zu, beim Erzbischof vorzusprechen, und am nächsten Abend kam er nicht mehr nach Hause. Er war verschwunden wie vor ihm schon Laura und Inés.
Carlottas Welt brach endgültig in sich zusammen. Binnen weniger Tage waren alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, verschwunden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie allein. Tagsüber fürchtete sie, verrückt zu werden, und nachts gab sie sich die Schuld an allem, was geschehen war: Wenn sie Laura nicht weggegeben hätte, wenn sie Laura nach den ersten schlimmen Anzeichen abgeholt hätte, wenn
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