Die Glaszauberin pyramiden1
die Eins und der Meditation über die Geheimnisse von Zahlen und Formen. Sie suchen ständig die vollständige Vereinigung mit der Eins… und das ist Raguel zum Verhängnis geworden.«
Sie fröstelte, und jetzt waren es meine Hände, die sich fester um die ihren legten. »Die Magier suchen auf viele verschiedene Weisen die Vereinigung mit der Eins, Tirzah – ich glaube, die Pyramide wird schließlich für die letztendliche Vereinigung sorgen, auch wenn die Magier nie darüber sprechen. Bis die Pyramide vollendet ist, müssen sich die Magier niedere Arten der Vereinigung zu Nutzen machen. Gelegentlich holt sich ein Magier eine Frau ins Bett, um die Eins zu berühren.«
Wieder hielt sie inne, und ich begriff, daß sie nicht Raguels Erfahrung durchlebte, sondern ihre eigene.
»Im Augenblick des körperlichen Höhepunktes während des sexuellen Aktes behaupten die Magier, eine intensive aber kurze Vereinigung mit der Eins zu erleben… mit der Unendlichkeit. Die Frau, die sie dazu benutzen, diesen Augenblick der Vereinigung zu erreichen, spielt dabei keine Rolle.« Isphet zwang ein humorloses Grinsen auf ihr Gesicht, aber es verschwand gleich wieder. »Ich weiß nicht, warum sie keine Ziegen nehmen… Ziegen wären viel problemloser. Frauen dürfen bei diesem Akt nicht schwanger werden, denn dadurch würde sich die Eins teilen, würde sich ihre Macht teilen. Ich weiß nicht, wie Raguel es geschafft hat, trotzdem schwanger zu werden – für gewöhnlich nehmen die Magier die größten Mühen auf sich, um eine Schwangerschaft zu verhindern –, aber darum hat Ta’uz so gewalttätig reagiert, und darum hat er das Kind auf der Stelle getötet. Es hat die Eins entweiht, hat sie geteilt. Ihr Leben war ein Greuel. Und deshalb mußte das wunderschöne kleine Mädchen sterben.« Ich legte die Arme um sie, und Isphet weinte.
4
Schließlich legten wir uns alle für ein paar Stunden nieder – ich teilte Saboas Pritsche –, schliefen jedoch sehr unruhig und standen in der Morgendämmerung zum Chorgesang der Frösche in den Schilfbänken am Ufer des Lhyl auf.
Ich half Saboa, die Fensterläden zu öffnen und betrachtete mein neues Zuhause, während die anderen das Feuer schürten und Töpfe aufsetzten. Die Wände des rechteckigen Raumes bestanden aus grob verputzten Backsteinen. Der Raum selbst war groß, wenn auch schmucklos. An den Wänden standen Pritschen, auf Regalbrettern waren Kleidung, Töpfe und Krüge gestapelt. Weitere Krüge waren im Boden eingegraben, um ihren Inhalt kühl zu halten. Neben der Kohlenpfanne in der Raummitte standen drei Holzstühle mit geflochtenen Schilfsitzen, ein niedriger Tisch sowie mehrere Schilfmatten; von den Deckenbalken hingen Öllampen herab. Das war es eigentlich auch schon. Selbst unsere kleine Behausung in Viland war wohnlicher gewesen.
Die beiden Fenster wiesen in eine Gasse hinaus. Eine Tür führte zur Straße, eine andere in einen kleinen Lagerraum, und eine dritte zu einem Waschraum in einem winzigen Innenhof, der allen Wohnungen dieses Gebäudes auch zur Verrichtung der Notdurft diente. Es waren keine Innentreppen zu sehen, aber auf dem Hof führte eine außen zu den höheren Stockwerken.
Isphet hatte Raguel nach draußen zum Waschraum geholfen, und jetzt kehrte diese wieder zurück; ihr Gesicht war grau, und das Leid hatte Furchen hineingegraben. Sie setzte sich ans Feuer und nahm schweigend einen Napf mit warmem Haferbrei entgegen, rührte ihn geistesabwesend mit dem Löffel um.
Isphet betrachtete meine von der Reise mitgenommene Kleidung und schickte mich hinaus, damit ich mich reinigen konnte. Als ich fertig war, gab sie mir ein großes Stück hellen Baumwollstoffes mit schmalen grünen Streifen und zeigte mir, wie man sich darin einwickeln mußte, um es in ein praktisches Kleidungsstück zu verwandeln, das Beine und Arme unbedeckt ließ. Alle Frauen trugen solche Wickelgewänder.
»An diesem Ort wirst du nicht viel mehr brauchen, Tirzah. Anmutige Gewänder sind nur noch Teil deiner Vergangenheit. Und binde dein Haar zurück; in meiner Werkstatt dulde ich kein loses Haar.«
Sonst sagte niemand ein Wort, und jeder versuchte zu überhören, daß Raguel die ganze Zeit leise in ihren Napf weinte. Ich aß etwas von dem warmen Haferbrei, aber mein Magen hatte sich noch immer nicht von den Ereignissen der vergangenen Nacht erholt, und nach einigen Minuten stellte ich den Napf zur Seite.
Als Kiath die Kohlen abdeckte und Saboa die Laken auf den Pritschen
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