Die Glorreichen Sieben 05 - und Der doppelte Schluessel
uns deine physische Gegenwart“, erwiderte der Studienrat, „aber mit deinen Gedanken scheinst du ganz weit weg zu sein. Wie soll das weitergehen mit dir?“ Er legte seine Zeitung auf den Tisch, stand auf und schlenderte zu dem Fenster hinüber, durch das kurz zuvor noch die Taube neugierig ins Klassenzimmer gespäht hatte. Er stand eine Weile mit dem Rücken zu seinen Schülern. Aber keinesfalls, um sie in der Spiegelung der Scheibe zu beobachten. Purzer konnte auf derartige primitive Tricks verzichten.
„So schwer sind die Aufgaben doch nun auch wieder nicht“, meinte Purzer und verschränkte seine Hände hinter dem Rücken.
„Na, ganz schön raffiniert“, seufzte Karlchen Kubatz, ohne von seinem Heft aufzublicken.
„Eine Klassenarbeit soll ja auch kein Spaziergang sein“, erwiderte der Studienrat. Er blickte eine Weile in den Hof hinunter, wo ganz hinten bei den Mülltonnen mutterseelenallein ein Junge saß und zu ihm heraufschaute.
Purzer drehte sich um und machte ein paar Schritte in die Richtung von Manuel Kohl. „Kannst du mit den Fragen denn überhaupt nichts anfangen?“
„Sie sind leider wie chinesisch für mich“, meinte der Schüler mit den großen blauen Augen entmutigt.
Zwei oder drei Schüler kicherten.
„Himmeldonnerwetter, probier es doch wenigstens“, meinte Studienrat Purzer halblaut und eindringlich. „In meiner Klasse gibt es keine Sitzenbleiber, dafür bin ich inzwischen bekannt wie ein bunter Hund.“ Er lächelte ein bißchen. „Übrigens können wir uns das gar nicht leisten, daß du hängenbleibst, weil ich mich dann künftig genieren müßte, wenn ich weiterhin bei deinen reizenden Eltern meine Blumen kaufe.“
Purzer war wieder zu seinem Tisch gewandert. Er setzte sich, lehnte sich zurück und verschwand wieder hinter den auseinandergefalteten Bad Rittershuder Nachrichten. „Immerhin haben wir mit den Versetzungen ja noch bis Juli Zeit“, meinte er dabei. „Die Klasse bitte ich um Nachsicht, falls ich sie bei der Arbeit gestört haben sollte.“ Er blätterte jetzt um und vertiefte sich in den Sportteil seiner Zeitung.
Der Boß der Glorreichen Sieben hatte vom leeren Schulhof her die Silhouette des Studienrats am Fenster beobachtet. Sie war eine Weile stehengeblieben und dann wieder verschwunden.
„Das geht mehr auf die Nerven als der spannendste Krimi“, schimpfte Paul Nachtigall vor sich hin. Gleich darauf feuerte er sein Physikbuch, das Heft und seinen Kugelschreiber in die braunlederne Schulmappe. Genauso muß es in einem Heizkessel rumoren, wenn er wegen Überdruck kurz vor dem Explodieren steht, dachte er und sprang auf.
Bereits zwei Minuten später karriolte der Boß der Glorreichen Sieben wie ein Verrückter kreuz und quer über den leeren Schulhof. Seine Gedanken waren wieder einmal bei Manuel Kohl. Der schmale Junge mit den verträumten Augen ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er sah ihn förmlich vor sich, wie er da oben im zweiten Stockwerk ratlos von einer Zahl über die andere stolperte.
Wir müssen so was wie einen Abschleppdienst für ihn organisieren, überlegte Paul Nachtigall. Er kurvte dicht vor dem Eisengitter an der einen Seite des Hofs zum Hauptgebäude hin, bremste ab, daß es nur so staubte, und trat dann mit voller Kraft wieder an, ohne die Füße von den Pedalen zu nehmen. Wer von uns in Mathe bloß einigermaßen zur Spitze gehört, muß mithelfen, auch wenn’s ihm nicht in den Kram paßt. Wir lösen uns jeden Tag ab und zwiebeln ihn so lange, bis ihm die Gleichungen nur so aus den Ohren raushängen. Wäre doch gekichert, wenn wir ihn nicht in die nächste Klasse schaufeln. Da haben wir doch schon ganz andere Dinger gedreht...
„He, bei dir ist wohl ’ne Sicherung durch oder was?“ rief in diesem Augenblick eine Stimme. Sie gehörte Hausmeister Knöppke , der plötzlich zigarettenqualmend auf der breiten Steintreppe zum Eingang stand. „Radfahren im Schulhof ist verboten, du Pfeifenkopf. Das weißt du ganz genau. Wir sind doch nicht der Nürburgring.“
„Entschuldigung, Herr Knöppke “, rief Paul Nachtigall außer Atem zurück. „Ich warte ja nur, bis die da oben fertig sind. Aber ich muß Luft ablassen, oder ich platze auseinander.“ Er hatte inzwischen schon schweißnasses Haar, sauste mit gekrümmtem Rücken schon zum drittenmal um den Kastanienbaum herum und strampelte dann zu den Mülltonnen hinüber, hinter denen die herausgerissenen alten Schulbänke von der Möbelfirma wie ein Haufen Kisten
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