Die Glücksparade
spielen.»
Am Ende der Saison ging es darum, sich auf einen Tabellenplatz zu retten, auf dem die Mannschaft nicht weiter absteigen würde. Den Klassenerhalt sichern, das sei das Ziel, sagte der Trainer. Dann traten sie auswärts gegen einen Club an, gegen den sie noch reelle Chancen hatten. Gegen Rot-Weiß Dreckloch, sagte mein Vater immer. Das Spiel begann mit fast einer Stunde Verzögerung bei Regen und verlief zunächst wie in Zeitlupe. Jede Seite versuchte, den Ball so lange wie möglich hin und her zu schieben, bis er bei einem Gegenspieler oder im Aus landete. Keiner war darauf aus, sich dreckiger zu machen als nötig, die Partie war eine lästige Pflicht für alle. Bis in die letzte Viertelstunde blieb es beim null zu null.
Dann passierte etwas: Ein Einwurf wurde den anderen zugesprochen, die Verteidiger schliefen, der Spieler mit dem Ball warf ihn dem mit der Nummer Zwölf praktisch auf den Fuß, und der löste sich und kam ungehindert auf das Tor meines Vaters zu. Mein Vater lief ihm entgegen, und bevor der Stürmer schießen konnte, rutschte er mit ausgestrecktem Fuß in ihn hinein und holte ihn von den Beinen. Der Zwölfer flog mit gespreizten Armen in den Strafraum, überschlug sich und blieb auf dem Rücken liegen, das rechte Bein angewinkelt und sich den Knöchel haltend. Der Schiedsrichter gab sofort Elfmeter.
«Damit hätte ich rechnen müssen», sagte mein Vater an dieser Stelle jedes Mal. Also zog er seine Handschuhe noch einmal fest, ging ins Tor und machte sich bereit, während die Gegner sich auf einen Schützen einigten. Der, den er zu Fall gebracht hatte, ging so lange an der Seitenlinie auf und ab, setzte probeweise seinen rechten Fuß auf den Boden und hüpfte anschließend, als hätte er sich verbrannt, wieder ein Stück weit auf dem linken Bein. Dieses Detail ließ mein Vater nie aus, und mit der Zeit sah auch ich den hüpfenden Spieler vor mir, auf dem Rücken eine leuchtende Zwölf.
Als Nächstes griff mein Vater hinter sich, denn der Ball lag im Tor. So weit wäre das noch zu verkraften gewesen. Es war nur das Tor gefallen, das auch ohne den Elfmeter gefallen wäre, und er hatte das Seine getan, um es abzuwenden, auch wenn es ihm nicht gelungen war. Wenn es dabei geblieben wäre, säße er vielleicht heute nicht hier, sagte er dann immer, und wenn er so weit war, brachte er jeden dazu zu glauben, die Viertelstunde, die folgte, hätte über sein Leben und seine Zukunft entschieden.
Es vergingen keine fünf Minuten, bevor er schon wieder weit hinauslaufen musste, und dieses Mal wollte er sichergehen, dass er den Stürmer mit dem Ball noch vor dem Strafraum erwischte. Er würde natürlich Rot bekommen, aber was blieb ihm übrig, so kurz vor dem Ende und angesichts eines weiteren sicheren Tors? Allerdings gab der Schiedsrichter nicht Rot, sondern nur noch einmal Elfmeter.
Vielleicht, sagte mein Vater, sollte man manches einfach geschehen lassen. Es ist nur so schwer, genau zu wissen, wann. Genauso schwer wie beim Hütchenspiel zu gewinnen. Mit einer Roten Karte wäre das Debakel für ihn überstanden gewesen. Aber so ging es weiter. Mein Vater stellte sich auf die Linie, mit den Händen in der Luft rudernd und zum Sprung bereit. Der gegnerische Spieler war derselbe, der schon beim ersten Mal geschossen hatte. Vor Anstrengung war sein Gesicht rot angelaufen, womöglich auch vor Aufregung. Seine Wangen hätten gestrahlt
wie nasse Tomaten
, sagte mein Vater.
Der Stürmer lief an, und als mein Vater sah, wie er ausholte und das Bein zum Schuss schwang, sprang er nach rechts, dorthin, wo er immer besser gewesen war, aber in diesem Moment verlangsamte der andere, und sobald mein Vater nach unten getaucht war, schoss der Schütze mit den puterroten Backen den Ball ziemlich genau in die Mitte des Tors. Seine Mitspieler jubelten. Mein Vater sprang auf und schrie den Schiedsrichter an. Er schrie, dass der Elfmeter ungültig sei, und jetzt bekam er die Rote Karte. Das Tor wurde gegeben, und seine Mannschaft verlor mit null zu zwei.
Danach hielt er es nicht mehr lange aus auf dem Hunsrück. Ich konnte ihm glauben, wenn er sagte, er habe seit dem Spiel keinen Schluck Bier mehr trinken können, ohne zu glauben, jemand habe hineingespuckt. Immer häufiger besuchte er Bekannte in der Stadt, und bei einem dieser Ausflüge, kaum zwei oder drei Monate nach dem Spiel, begegnete er meiner Mutter.
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Seit wir umgezogen waren, sah ich meine Mutter öfter als früher, und
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