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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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trotzdem war sie nicht richtig da. Etwas war mit ihr geschehen in den letzten Monaten und Wochen, es war, als wäre sie langsam unsichtbar geworden. Und sie hatte wieder angefangen zu rauchen, nach fast vier Jahren. Zum Rauchen ging sie vor die Tür, morgens und abends manchmal nur in ihrem dunkelgrünen Bademantel. Sie stand dort, mit der Zigarette zwischen zwei Fingern und die linke Hand in die Beuge des angewinkelten rechten Arms gelegt. Die heruntergebrannten Kippen sammelten sich in einem henkellosen Becher auf der obersten Treppenstufe, der nachts gelegentlich ins Gras kippte, sodass sich die Filter zwischen den Halmen verteilten.
    Sie machte immer noch ihre Touren in die Stadt, zum Supermarkt, aber die meiste Zeit verbrachte sie mit Aleki in deren Container oder davor.
Das hast du dir schon gedacht
, sagte ihr Blick, wenn ich sie dort sitzen sah. Für meinen Vater war das nicht mehr als ein Grund für gelegentliche Bemerkungen. Er sagte, Aleki sei das treueste Schaf in seiner Herde, denn sie blieb auch unter der Woche in ihrem Hänger, während ihr Mann in die Stadt zurückfuhr.
    Meine Mutter fragte nicht mehr, wie ich in der Schule zurechtkäme, und obwohl ich so viel Zeit dort verbrachte, war es fast, als ginge ich nicht mehr hin. Ich hatte versprochen, so lange durchzuhalten, bis ich einen Abschluss in der Tasche hätte. Doch inzwischen glaubte ich selbst nicht mehr daran, und das Seltsame war, dass es praktisch keinen Unterschied machte. Irgendwann im Frühjahr hatte ich begonnen, erst die Ränder meiner Hefte und bald auch ganze Seiten mit Zeichnungen zu füllen. Ich malte immer nach irgendeiner Vorlage. Oft versuchte ich mich an den Köpfen der Lehrer, oder ich hielt mich an ein Foto aus einem Buch. Auch wenn die Bilder mit der Zeit wirklich besser wurden, ging es mir gar nicht so sehr darum. Es war einfach eine Beschäftigung, während deren ich mich nur auf das konzentrieren konnte, was ich gerade tat und an nichts anderes zu denken brauchte.
    Wenn ich Hausaufgaben zu erledigen hatte, setzte ich mich an den kleinen Tisch in der Küche, weil das der einzige war, den es gab. Als es wärmer wurde, ging ich dazu über, alles Mögliche vor den Container zu verlagern. Ich hatte einen alten Liegestuhl zu uns getragen, den Urlauber zurückgelassen hatten. Mein Vater hatte sich geärgert und geflucht, weil ständig etwas liegen blieb und weil viele Leute den Platz als Müllkippe benutzten, bevor sie abfuhren, wie er sagte. Aber diese Klappliege war noch nicht völlig unbrauchbar. Sie hatte ein Gestänge aus Metall, und zwischen diesen Rahmen war ein orangefarbener Stoff gespannt. Die Gummischnur, mit der die Bespannung befestigt war, war gerissen, sodass der Stoff lose hing. Nachdem ich die Schnur dort, wo sie abgerissen war, verknotet und die leeren Schlaufen mit Kabelbindern am Metallrohr festgezurrt hatte, konnte ich darin sitzen oder liegen. Ich platzierte meinen Stuhl im Schatten zwischen Container und Zwinger, und nachmittags legte ich mich mit meinen Sachen hinein und blieb, wenn es nicht regnete, bis zum Abend dort. Die Sonnenbrille aus dem Auto hatte ich immer bei mir, und ich behielt sie auch dann auf, wenn es sich bewölkte. Im Grunde genommen tat ich dort gar nichts, es sei denn, ich rechnete, schrieb oder las. In den Container hatte ich nur ein Englischwörterbuch, die Simon-&-Garfunkel- CD und meine Comicsammlung mitgenommen. Bislang bestand sie aus vierundzwanzig Büchern und Heften. Ab und zu holte ich eins davon nach draußen und las es zum fünften oder zehnten Mal, je nachdem wie gut mir die Geschichte und die Bilder gefielen.
    Wenn ich die Liege zurückkippte, sah ich nur die Satellitenschüssel an unserem Container und die Spitzen der Pappeln, deren Blätter immer leicht in Bewegung waren. Ich lernte, die Uhrzeit am Stand der Sonne zu abzulesen. Am Nachmittag wurden die Schatten der Bäume länger. Die Strahlen fielen schräg, das Wasser gleißte und lag da wie ein schmaler silberner Streifen, hinter dem das gegenüberliegende Ufer nah heranrückte. Um diese Zeit sammelte ich meine Sachen auf und brachte sie nach drinnen, nahm Benni an die Leine und ging mit ihm los.
    An einem solchen Nachmittag stand die Tür zum Büro meines Vaters offen, was darauf hindeutete, dass gerade jemand bei ihm war. Im Gras blitzte ein Stück Metall, und als ich mich danach bückte, erkannte ich einen kleinen blanken Sichelmond mit einem dünnen Kettchen daran. Ich hob ihn auf, wickelte die Schlaufe der Leine

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