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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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Steakrestaurant.»
    Es war kühl geworden, wie immer abends. Der Fluss brachte kalte Luft, unter der sich die Kerzenflamme zur Seite neigte, als pustete jemand in sie hinein, und sogar so etwas wie Tau. Ich zog meine Jacke an, auch meine Mutter sagte beiläufig, es sei frisch hier im Freien, und dann redeten sie alle eine Zeitlang über das Wetter und darüber, wie wohl der Sommer werden würde. Irgendwann lehnte Lisa im Türrahmen. Sie sah anders aus als im Fernsehen. Ihr Haar wirkte strähnig, und sie streckte ihre Arme aus, als käme sie gerade aus dem Bett. Kurz vorher hatte Aleki als Vorspeise geröstete Weißbrotscheiben mit einem Tomatenaufstrich gebracht, und ich hatte meinen Wein dazu schon ausgetrunken, aber Horst hatte mir wortlos nachgegossen, und ich hatte das Gefühl, es lägen glühende Münzen auf meinen Wangenknochen.
    Lisa setze sich auf den einzigen freien Stuhl am Kopfende. «Wir haben dich im Fernsehen gesehen», sagte mein Vater. «Ich hab natürlich gleich versucht anzurufen, aber ich bin nicht durchgekommen.»
    Lisa lachte. Ihr Mund öffnete sich geräuschlos zu einem großen roten O, sie lehnte sich nach vorn und legte meinem Vater eine Hand aufs Bein, ließ sie zwei oder drei Sekunden dort und zog sie wieder weg, und obwohl ich selbst nicht einmal den Lufthauch ihrer Bewegung gespürt hatte, lief mir ein Kribbeln den Rücken hinunter.
    Ich gab mir Mühe, nicht zu ihr hinzuschauen, gerade weil ich es eigentlich tun wollte. Stattdessen sah ich auf die Uhr. So vergingen die nächsten anderthalb Stunden, als müsste ich jede Minute davon einen steilen Berg hinaufschieben. Horst brachte in dieser Zeit eine zweite und eine dritte Flasche Wein an den Tisch, und wir aßen Lasagne und Salat. Lisa und Aleki sprachen kaum, eigentlich redeten nur Horst und mein Vater. Horst erzählte von Computerprogrammen, von Betriebssystemen, die sich mit manchen Anwendungen nicht vertragen und deshalb immer abstürzen, und davon, dass Microsoft von Apple klaue, und mein Vater tat, als interessierte ihn das. Danach holte Horst seine Digitalkamera und suchte eine Position, aus der er uns alle zusammen fotografieren konnte.
    Das letzte Bild wollte er per Selbstauslöser schießen. Dafür stellte er die kleine silberne Kamera auf das Geländer der Veranda und setzte sich schnell wieder an den Tisch.
    «Alle hinschauen, gleich kommt das Vögelchen», sagte er. An der Kamera blinkte ein rotes Licht, und einige Sekunden lang flackerte sie grell, dann blitzte es.
    «Das war’s», sagte Horst. «Ihr bekommt natürlich einen Abzug.»
    «Danke», sagte mein Vater. «Simon schaut schon auf die Uhr. Ich glaube, es ist Zeit, zu gehen.»
    Im Aufstehen konnte ich sehen, dass meine Mutter Gänsehaut an den Beinen hatte, und sie tat mir leid in diesem Moment, obwohl sie beim Abschied sagte, es sei ein wunderschöner Abend gewesen. Als Lisa mir, nach Horst und Aleki, die Hand gab, spürte ich ihre kalten Finger, und ich ließ sie sehr schnell wieder los.

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    [9]
    Aus irgendeinem Grund war ich mir später nicht sicher, ob mein Vater über Gerd Müller gesprochen hatte, als er gesagt hatte, das sei lange her, oder über sich selbst und über die Zeit, als er mit seiner ersten Frau zusammenlebte und Fußball spielte. Mein Vater war Torhüter gewesen, und er hatte seine Handschuhe
an den Nagel gehängt
, wie er es ausdrückte, weil seine Mannschaft abgestiegen war und man ihm einen großen Teil der Schuld dafür zugeschoben hatte. Er sprach nicht oft darüber, aber wenn er es tat, meistens wenn Fußball im Fernsehen lief, tat er es immer in denselben Worten.
    Dass er so leicht hatte erster Torwart werden können, lag daran, dass der alte aufgehört hatte und keine anderen jungen Leute zu der Mannschaft kamen. Sie fanden entweder anderswo Arbeit und zogen weg aus dem Ort, oder sie übernahmen einen Hof und hatten anderes zu tun. Also wechselte mein Vater aus der Abwehr ins Tor und spielte dort sogar besser als im Feld, er hielt auch besser als sein Vorgänger. Nur war die Mannschaft, so wie sie jetzt aussah, ihren Gegnern nicht gewachsen. Die Leute vorn schossen zu wenig Tore, meistens gar keine, und die hinten ließen die Stürmer der anderen machen, was sie wollten.
    Es wäre besser gewesen, mehr Bälle durchzulassen, sagte er. «Aber so leicht ist es nicht. Du kannst nicht absichtlich schlecht spielen, ohne dass man es merkt. Das muss man richtig trainieren, und dann kann man auch gleich trainieren, gut zu

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