Die Glücksparade
sich sprach, aber ich dachte, dass ich es wahrscheinlich genauso gemacht hätte an seiner Stelle.
«Der verdreht ständig die Buchstaben in Wörtern. Er sagt immer Schankedön statt Dankeschön oder Stück maln rück und solche Sachen. Die ganze Zeit.»
«Und warum tut er das?»
Erik drehte sich um und schaute zur Tür. Obwohl dort niemand zu sehen war, wurde seine Stimme leiser, und er beugte sich näher zu mir hin.
«Das ist so ein Zwang», sagte er. «Er kann nicht anders, glaube ich. Aber es geht mir so auf die Nerven, dass ich ihn am liebsten schlagen würde, wenn er das macht.»
«Ist er deshalb hier?», fragte ich, doch ich bekam keine Antwort.
«Wollen wir was spielen?», fragte Erik und zog den Stapel mit Kartons wieder zu sich heran. Ich schob die Schultern hoch, senkte sie wieder und wartete ab.
«Der hat alle möglichen Zwänge», sagte Erik und hob eine Schachtel nach der anderen, bis sie alle nebeneinander auf dem Tisch lagen. «Bei vielen kommt man erst mit der Zeit drauf und wenn man darauf achtet. Zum Essen bringt er immer seine eigene Wasserflasche mit an den Tisch, weil er aus der, die schon dasteht, nicht trinken kann. Dann gießt er sich Wasser in sein Glas, und wenn er die Flasche wieder zuschraubt, klopft er danach immer zweimal kurz auf den Verschluss.
Immer
. Ich hab ihm dabei zugeschaut, und er hat es auch gemerkt, aber er muss es trotzdem machen. Manches versucht er sogar vor den Ärzten zu verstecken.»
Ich schaute die Deckel an, die vor mir ausgebreitet waren. Von den meisten Spielen hatte ich noch nie gehört.
«Das hier ist gut», sagte Erik. Er trommelte mit den Fingerkuppen auf eine sechseckige Schachtel. ABALONE stand darauf. «Irgendwie ist das lustig», sagte er. «Sein Vater ist selbst Arzt. Und der hat ein Hobby, das heißt
Moritatengesang
. Weißt du, was das ist?»
Ich überlegte, aber Erik sprach sofort weiter: «Ich hab’s auch nicht gewusst, er hat es mir erklärt», sagte er. «Die singen alte Lieder auf Stadtfesten, und dazu ziehen sie sich schwarze Anzüge an und setzen Zylinderhüte auf. Kannst du dir das vorstellen?»
«Ich glaub schon», sagte ich. Was ich mir vorstellte, sah aus wie ein altes Foto, und aus irgendeinem Grund hatten die Männer, an die ich dabei denken musste, alle dunkle Schnurrbärte.
«Aber weißt du was», sagte er. «Er meint, er kennt euren Campingplatz.»
Ich ließ mir viel Zeit, ehe ich antwortete, und betrachtete Eriks pickeliges Kinn, weil ich ihm nicht direkt in die Augen schauen wollte, ohne etwas zu sagen.
«Und du?», sagte ich endlich und hob den Blick. Seine Augen waren leer. Er nahm den Deckel der Schachtel ab, im Inneren kamen eine Menge glänzender schwarzer und weißer Kugeln zum Vorschein, die aussahen wie kleine Billardbälle.
«Ich konnte das alles nicht mehr aushalten», sagte er.
«Was meinst du mit
alles
?», fragte ich.
«Alles», sagte er wieder. «Alles. Außerdem will meine Mutter nach Bayern ziehen, zu irgendeinem Typen. Da will ich nicht hin.»
Ich nickte. Er baute das Spielfeld zwischen uns auf und sortierte die schwarzen und weißen Kugeln so, dass sie getrennt in beiden Hälften lagen.
«Was ist denn mit deinem Vater?», sagte ich.
«Der ist abgehauen, schon lange», sagte Erik. «Bezahlt auch nix, weil er nix hat.» Er lachte plötzlich. «Der wohnt jetzt angeblich bei seinem Bruder, also bei meinem Onkel. Der hat mir früher immer eine Hand hingehalten und gesagt:
Zieh mal am Finger
, und wenn ich es getan hab, hat er gefurzt.»
Die Idee des Spiels bestand darin, die Kugeln des anderen aus dem Feld zu schieben und dabei die eigenen so zu legen, dass sie nicht bewegt werden konnten. Es war weniger leicht, als es den Anschein hatte. Erik erklärte mir die Regeln, die nicht schwer zu verstehen waren, und danach spielten wir eine Partie nach der anderen, beinahe ohne ein Wort zu wechseln. Ich hatte mich zu Anfang für Schwarz entschieden, und wir blieben bei unseren Farben bis zuletzt. Die ersten beiden Spiele gewann Erik hintereinander, und jedes Mal ging es ziemlich schnell. Ich stellte mir vor, wie er in den letzten Tagen oder Wochen jeden Nachmittag dieses Spiel gespielt hatte, und fragte, wie lange er eigentlich schon in der Klinik sei.
«Zwei Wochen, ziemlich genau», sagte er.
«Und wie lange musst du noch dableiben?»
Erik drückte eine meiner Kugeln ein Feld weiter Richtung Rand und sagte, er wisse es nicht.
Während wir dasaßen und unsere Augen auf das Spielbrett zwischen uns gesenkt
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