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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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hatten, schielte Erik ab und zu nach der tellergroßen Uhr an der Wand. Gegen halb sechs sagte er, er müsse gleich aufhören, weil bald zu Abend gegessen werde.
    «In Ordnung», sagte ich.
    Wir standen auf, Erik räumte die Sachen zurück in den Karton und baute den Stapel wieder an der Tischkante auf. Erst jetzt fiel mir auf, dass in der ganzen Zeit niemand sonst in den Aufenthaltsraum gekommen war.
    Wir gaben uns die Hand, dann ließ mich die Schwester nach draußen, und Erik blieb noch hinter der Glastür stehen, während ich auf den Aufzug wartete. Ich ging zurück zur Straßenbahnhaltestelle, und dort rief ich meinen Vater an und bat ihn, mich am Bahnhof abzuholen.
    «Bist du fertig geworden mit der Rostschutzfarbe?», fragte ich.
    «Ja», sagte er. «Es war bloß nicht genug. Ich muss noch mehr davon besorgen.»
    Von Erik hörte ich in den folgenden Tagen nichts, und ich hatte auch nicht damit gerechnet. Ich ließ eine Woche vergehen, und am nächsten Mittwoch schrieb ich ihm eine Nachricht. Er antwortete nicht, und noch ein paar Tage später versuchte ich ihn anzurufen, aber er nahm nicht ab. Ich überlegte, ob ihm etwas passiert sein könnte, doch ich sagte mir, dass die Fenster auf seiner Station sich nicht öffnen ließen, und gab es zuletzt auf.

[zur Inhaltsübersicht]
    [16]
    Der Sommer war hartnäckig. Die Tage wurden zwar kürzer, aber es blieb warm, und nachmittags konnte ich meinen Liegestuhl beziehen, auch wenn ich mir bei trübem Wetter eine Jacke anzog oder über die Knie legte, sodass mein Vater, wenn er vorbeikam, behauptete, ich sähe aus wie ein Patient in einem Luftkurort. Wenn ich eine Weile in den metallgrauen Himmel geschaut hatte und dann wieder daran dachte, wo ich war, fühlte ich so etwas wie Überraschung. Ich hätte gern gewusst, was die anderen von uns hielten. Immerhin waren wir die Einzigen, die wirklich hier lebten, obwohl sie sich darüber vielleicht gar keine Gedanken machten. Vielleicht war meine Mutter einfach die Frau, die ihnen Zigaretten brachte, und mein Vater war der Mann, den sie riefen, wenn sie ihre Gasflaschen an dem Tank neben seinem Büro auffüllen mussten, wenn sie irgendetwas loszuwerden hatten, sich Bestätigung suchten oder sich das Wetter schönreden lassen wollten. Ob er selbst weiterhin das Gute an seiner Idee sah oder nicht, er ließ gegenüber meiner Mutter häufiger den Satz fallen, es sei nicht klug, den Leuten zu zeigen, wie sehr man sie dafür verachte, dass sie freiwillig hierherkamen und womöglich sogar gern, und erst das machte mir klar, dass wir so bald nicht von hier wegkommen würden.
    Er blieb jetzt öfter vor der Veranda der Hellers stehen und redete mit Lisa, die dort saß und leise Sprechübungen mit einem Buch machte. Ich sah sie, wenn ich mit Benni oder mit der Schubkarre unterwegs war, und ich ging immer mit Absicht so, dass ich an diesem Wagen vorbeimusste. Dann grüßte ich, und sie unterbrach ihr Gemurmel und winkte mir zu.
    Mein Vater hatte erzählt, Lisa sei allein hergekommen, um sich in Ruhe auf ihre Sendung vorbereiten zu können. Als ich sie eine Woche lang nicht mehr gesehen hatte auf meinen Wegen, fragte ich ihn nach ihr. Er zuckte die Achseln wie ein Verkäufer, der nicht hat, wonach er gefragt worden ist. «Wir müssen wohl ohne sie auskommen», sagte er.
     
    In derselben Woche fand ich einen Job. Ich war mit Benni über die Brücke zu den Obstwiesen gegangen, und dabei sah ich Traktoren mit flachen Anhängern, auf denen sich Holzstiegen voller Äpfel stapelten, und dunkel gekleidete Männer unter den Bäumen. Ich machte die Leine am Halsband fest, hielt sie kurz und ging auf einen Lastwagen mit breiter Ladepritsche zu, der dort parkte. Daneben kniete ein kleiner Mann. Seine Schuhe waren erdbeschmiert, und auch an seinen Hosenbeinen waren Spuren von Erde. Ich sah ihn an und fragte, ob ich einen Apfel haben könne. Ohne etwas zu erwidern, stand er auf, kreuzte die Arme vor der Brust und lächelte mir mit geducktem Kopf zu, bis ich begriff, dass er nicht verstand, was ich gesagt hatte. Weiter hinten kam ein anderer Mann auf uns zu, der eine Kiste trug. Er war groß und breit gebaut und hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich wartete ab, bis er seine Kiste auf den Laster gestoßen hatte, bevor ich meine Frage wiederholte.
    «Was auf dem Boden liegt, kannst du haben», sagte er und schob sich an mir vorbei.
    «Ich könnte Ihnen helfen, wenn Sie noch jemanden brauchen.»
    Jetzt musterte er mich und ließ

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