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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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seinen Blick zuletzt zwischen meinen Knien und Bennis Schnauze in der Luft hängen. Es dauerte lange, bis er die Augen wieder hob und fragte, wie alt ich sei. Ich sagte ihm, ich sei sechzehn, und er nickte.
    «Gut», sagte er. «Wir machen es so. Mir schickt das Arbeitsamt immer Leute, die kommen einen Tag und melden sich dann krank. Dann hab ich nur noch die Bulgaren. Wenn du am Samstag um halb acht hier im Feld stehst und es fehlt einer, kannst du einspringen.»
    Ich nickte und wartete.
    «Vier zwanzig in der Stunde», sagte er noch.
    Das war weniger, als ich erwartet hatte, und vielleicht rechnete er damit, dass ich protestieren würde, jedenfalls sagte er, für die Bulgaren sei das eine Menge Geld und woanders bekämen sie noch weniger.
    «Ich bin kein Bulgare», sagte ich.
    «Dein Pech», entgegnete er. «Wenn’s dir nicht passt, lass es bleiben.»
     
    Am Samstagmorgen stand ich um kurz vor sieben auf, zog meine ältesten Sachen an und legte meinen Eltern einen Zettel auf den Küchentisch. Draußen wurde es gerade hell. Das Gras, durch das ich ging, war feucht vom Tau, und die Laternen entlang der Straße waren noch angeschaltet und glommen gelblich, aber ihr Licht reichte nicht mehr weit.
    Die Männer lehnten an der Pritsche des Lasters, den ich schon beim letzten Mal gesehen hatte. Es waren fünf. Sie rauchten und tranken aus kleinen Bechern ohne Henkel, die sie ab und zu aus dunkelgrünen Thermosflaschen nachfüllten. Zwei von ihnen nickten mir zu, als ich mich zu ihnen stellte. Von irgendwoher kam der, der hier das Sagen hatte. Er trug heute eine Baseballmütze, von der sich vorne ein aufgedruckter Adler abschälte, und Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern.
    «Ihr nehmt euch immer eine Reihe vor und macht die Parzelle leer», sagte er zu mir, ohne mich dabei anzusehen. «Zwei Mann an einen Baum. Die Äpfel in die Kisten. Nicht sortieren, nur faules Zeug auf den Boden. Mittag ist um zwölf. Wenn du pissen musst, geh an einen leeren Baum.»
    Die Männer warfen nach und nach ihre Kippen weg, schraubten die Becher auf die Flaschen und hoben leere Kisten von der Pritsche. Ich führte Benni zu einem alten Zaunpfosten an einer Wegbiegung, schlang seine Leine darum und hängte meine Jacke darüber. Unter dem dritten Baum stand ein einzelner Mann, zu ihm ging ich und begann, das Gleiche zu tun wie er: Ich griff nach den kleinen harten Äpfeln, die manchmal so dicht beieinanderhingen wie Trauben, riss sie ab und ließ sie in eine Kiste fallen.
    Die anderen sprachen kaum. Sie pflückten die Äpfel mit schnellen Handgriffen, indem sie sie zugleich anfassten und drehten. Keiner bückte sich nach Äpfeln, die auf den Boden gefallen waren. Um an die höheren Äste zu gelangen, wenn es welche gab, stellten wir kleine Trittleitern gegen die Stämme, traten sie in den weichen Grund und stiegen ein paar Sprossen hoch, bis der Baum abgeerntet war.
    Nach einer Stunde hörte ich auf, immer wieder auf die Uhr zu schauen, sondern versuchte, mir einen eigenen Ablauf von Bewegungen anzugewöhnen. Meine Finger wurden langsam kalt und wund dabei, meine Handgelenke bekamen braune Striemen von der Rinde, die ich ständig streifte, und ich spürte das Gewicht meiner eigenen Arme. Der Mann mit der Kappe trug die gefüllten Kisten zum Lastwagen und ließ neue leere unter den Bäumen zurück. In der Zwischenzeit machte er sich mit einer Schere an trockenen Zweigen zu schaffen.
    Das Gras unter den Bäumen war rot und gelb gesprenkelt, und die Flecken waren Äpfel. Ich trat auf sie, wenn ich mich bewegte, fast bei jedem Schritt knirschte es unterm Schuh. Auch darauf gab ich bald nicht mehr acht, sondern setzte meine Füße einfach blind vor und zurück, und das Brechen der zerquetschten Äpfel mischte sich mit dem Poltern der herabfallenden Äpfel in den Kisten. Es klang wie dumpfes Hufgetrappel, und während der nächsten Stunden hörte es nie auf, es war, als galoppierten Hunderte Pferde über Felder, die ich nicht sehen konnte.
    Bis zum Mittag hatten wir dreißig Bäume abgeerntet. Während der Pause saßen wir in einer Reihe in der Sonne. Der Vorarbeiter hatte seine Mütze abgenommen und hockte dabei. Zwei der Bulgaren löffelten Essen, das sie mitgebracht hatten, aus einem Blechgeschirr. Ich hätte gern gewusst, wo sie herkamen, wo sie wohnten und wie sie überhaupt hießen, aber als ich versuchte, mit dem, der neben mir saß, zu sprechen, kam es mir sofort vor, als störte ich ihn, denn er hörte auf zu kauen und behielt den Bissen,

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