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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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erschöpft, obwohl es noch lange nicht Mittag war, und während ich mit zerkratzten Händen die harten Äpfel aberntete, stellte ich mir vor, ich sei ein Gefangener in einem Arbeitslager wie Jeff Jordan, und ich stellte mir auch vor, mich mit ihm zu unterhalten. Ich ließ ihn Sachen über die anderen Arbeiter sagen und über den Aufseher, und bald kamen die Sätze ganz von selbst, und sie drehten sich um die Möglichkeit, zusammen auszubrechen. Es gab die Eisenbahngleise in unserem Rücken. Dort fuhren ab und zu lange Güterzüge, auf die man aufspringen könnte, sagte Jeff, außerdem war in ein paar hundert Metern Entfernung der schmale Arm des Flusses, der seit dem Sommer wenig Wasser führte und den man durchwaten konnte, um die Spur für die Suchhunde abzuschneiden. Auch mit dem Lastwagen zu fliehen käme in Frage, dachte ich.
    Mittags aß ich meine Brote und legte mich kurz ins Gras, den Kopf auf meinem zusammengefalteten Pullover, und schloss die Augen. Nach der Pause versuchte ich, mit diesen Ausbruchsplänen weiterzumachen, aber es gelang mir nicht mehr richtig, denn stattdessen dachte ich an die Geschichte von Leutnant Blueberry und wie er als Sträfling in einen Steinbruch geschickt wird, in dem die Männer mit Ketten an den Füßen den ganzen Tag Steine brechen und schleppen müssen. Alle stöhnen unter der Hitze und der Last, bis auf einen Waliser namens Lyndon Morgans, der immer mit sich selber spricht und von dem alle glauben, er wäre verrückt geworden. Wenn er von den Aufsehern gefragt wird, was er da ständig vor sich hin brummt, erklärt er, er rede mit Gott. Das Seltsame ist, dass er sich nicht beschwert, sondern dass Gott ihn um Verzeihung bittet für alles, was er ihm angetan hat. Er schaut oben am Himmel aus einer großen Wolke, nur ein Gesicht mit Bart, und er entschuldigt sich und sagt zu dem Mann: Das ist ja eine ganz schlimme Sache, die ich dir da eingebrockt habe. Aber der unten im Steinbruch schüttelt den Kopf und widerspricht: Egal, du hast noch was gut bei mir, für den Sommer, in dem ich mit der Näherin zusammen war.
Trotzdem
, sagt der alte Mann in der Wolke, das ist schon eine Sauerei, was ich mit dir angestellt hab. Und der Sträfling antwortet:
Amen, Lord
, wenn du meinst, aber immerhin waren da auch die Sonnenaufgänge im Tal, als ich jung war und mich noch darum scherte, was aus mir würde.
    Ich fragte mich, ob es wirklich jemanden gab, der so dachte, oder ihn je gegeben hat. Und ob ich ihm glauben würde, wenn ich ihn je träfe.
    Als die Bulgaren damit begannen, die Kisten mit Fallobst aufzufüllen, schaute ich erst zum Himmel und dann auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Der Vorarbeiter kam zu mir herüber.
    «Sonntags ist früher Schluss», sagte er. «Du kannst aufhören.»
    «Dann muss ich heute mein Geld haben», sagte ich.
    «Was ist mit morgen?», fragte er.
    «Ich muss in die Schule.»
    Er zuckte die Achseln, und ich bot an, nächstes Wochenende wiederzukommen. Jetzt schüttelte er den Kopf.
    «Dann sind wir hier fertig, ich schätze, noch drei, vier Tage.» Ich überlegte, die Schule zu schwänzen.
    Er wartete, aber ich sagte nichts.
    «O.k., komm mit», sagte er.
    Wir gingen zu dem Lastwagen, er nahm einen Quittungsblock aus einem Fach in der Beifahrertür und schrieb eine Zahl darauf.
    «Acht und heute sechs», sagte er. «Macht achtundfünfzig achtzig. Ich geb dir sechzig, weil ich so ’n netter Kerl bin und weil Sonntag ist.» Er reichte mir einen Fünfziger und einen Zehner. «Wie sagt man?»
    «Danke», sagte ich und steckte die Scheine gefaltet in die Hosentasche.
    Hinten kletterten die Bulgaren auf die Ladefläche, hockten sich in den Spalt, der hinter den Obststiegen noch frei blieb, und der Vorarbeiter verriegelte die Holzklappe am Heck. Er ging zurück nach vorn, stieg ein und startete den Motor bei offener Tür. Ich stand immer noch da. Dann zog er die Tür zu, er schaute zu mir hin und hob einen Finger vom Lenkrad. Er fuhr los, und ich sah dem Lastwagen nach und dem schwarzen Qualm, der aus dem Auspuff kam.

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    [17]
    Die ersten kühlen Tage kamen im Oktober. Die Blätter der Pappeln schimmerten silbrig und begannen sich zu verfärben. Sie bekamen kleine Flecken, bis sie irgendwann mehr gelb als grün waren. Über dem Fluss tauchten Enten auf, die in hakenförmiger Anordnung stromabwärts flogen. Von den Nachbarn kamen nur noch wenige, und wenn sie da waren, beklagten sie sich, dass die Sonne nicht mehr richtig wärmte und dass es in

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